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Inklusion – eine Illusion? Wie sind die Chancen für Werkstattbeschäftigte auf dem Arbeitsmarkt?

Von DIETER BASENER


Für Menschen mit Behinderung stehen die Chancen auf dem Arbeitsmarkt schlecht und das gilt erst recht für Werkstattbeschäftigte. Dieser Satz gehört zur DNA der Werkstätten so lange, wie es sie gibt. Er klingt logisch, denn Werkstätten sind ja gemacht für Menschen, die als nicht erwerbsfähig gelten. Im folgenden Text will ich in sieben Thesen darlegen, warum diese scheinbar unumstößliche Gewissheit heute nicht mehr gilt und wie es wirklich bestellt ist um die Umsetzungschancen des Inklusionsauftrags der UN-Behindertenrechtskonvention.




These 1:
Die Möglichkeit einer Vermittlung von Werkstattberechtigten wurden in Deutschland bis heute nie ernsthaft ausgelotet

Als die Werkstätten 1974 ihre gesetzliche Form erhielten, konnte sich noch niemand vorstellen, dass Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf von Betrieben eingestellt werden könnten. Betriebliche Auswahlverfahren funktionieren nach dem Prinzip der Bestenauslese und eine schwerwiegende Einschränkung der Leistungsfähigkeit ist dabei ein kaum zu überwindendes Hindernis. Durch die Automatisierung und später die Digitalisierung verloren zudem viele Geringqualifizierten ihren Job.
Mit dem Konzept der „Unterstützten Beschäftigung“ fanden in den Vereinigten Staaten in den 70er und 80er Jahre viele tausend Menschen mit Behinderung dennoch einen dauerhaften Arbeitsplatz. Das Erfolgsrezept waren „Jobcoachs“, auf Deutsch könnte man sie „Kümmerer“ nennen. Sie umgingen die üblichen Bewerbungsverfahren und vermittelten die bislang scheinbar Unvermittelbaren quasi durch die Hintertür. Dazu suchten sie Betriebe mit der grundsätzlichen Bereitschaft, Menschen mit Behinderung zu beschäftigen, schnitten ihnen einen speziellen Arbeitsplatz zu und garantierten die Einarbeitung und eventuelle Kriseninterventionen. Nebenbei sorgten sie dafür, dass alle staatlichen Beihilfen ausgeschöpft wurden. Und siehe da: Sie hatten Erfolg. In Deutschland war die Hamburger Arbeitsassistenz ab 1992 der erste Fachdienst, der dieses Konzept erprobte. Jährlich vermittelt sie zwischen 30 und 35 werkstattberechtigte Personen in den Arbeitsmarkt, ausschließlich in sozialversicherungspflichtige Festanstellungen. Leider war der Hamburger Dienst einer der wenigen, die diesen Weg beschritt.
Der Gesetzgeber griff diesen Erfolg nicht auf. Er sah den Personenkreis der „nicht Erwerbsfähigen“ bei den Werkstätten offenbar in guten Händen. Zwar installierte er in den 90er Jahren die Integrationsfachdienste, sie waren aber ausdrücklich für vermittlungsfähige Personen zuständig und finanziell zu schlecht ausgestattet, um auch für Werkstattberechtigte tätig sein zu können. Die später aufgelegten Maßnahmen der Arbeitsagentur mit den Bezeichnungen DIA-AM und UB waren nicht als gleichrangige Alternative zur Werkstatt gedacht, sondern lediglich verfeinerte Ausleseverfahren. Obwohl seit fast 30 Jahren Menschen mit Werkstattanspruch in Betrieben Arbeit finden, unterteilt der Gesetzgeber Menschen mit Behinderung weiter in „Vermittlungsfähige“ und „nicht Vermittlungsfähige“, feiner formuliert: „voll Erwerbsgeminderte aufgrund der besonderen Schwere der Behinderung“. Für die zweite Gruppe ist allein die Werkstatt zuständig, eine Wahl zwischen Werkstätten und Vermittlungsdiensten analog zur Arbeitsassistenz ist nicht vorgesehen. Um einen wirklichen Wandel herbeizuführen, bedarf es aber eines flächendeckenden Netzes werkstattunabhängiger Fachdienste, die sich um die Festeinstellung im Arbeitsmarkt kümmern. Das Potential des Konzeptes der Unterstützten Beschäftigung wurde also in Deutschland bisher nicht abgerufen.


These 2:
Die Aufnahmebereitschaft und Aufnahmefähigkeit der Wirtschaft wird unterschätzt

Dass Übergänge möglich sind, wird auch ein hartnäckiger Werkstattbefürworter nicht leugnen. Der Auftrag, auf eine Vermittlung hinzuarbeiten, stand ja von Beginn an im Pflichtenheft der Werkstätten. Allerdings liegt die langjährige Vermittlungsquote aus Werkstätten unter zwei Promille, d.h. nur zwei von 1.000 Beschäftigten finden im Schnitt pro Jahr den Weg in ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis.
Über die maximale Grenze der Vermittelbarkeit aus der Werkstatt gibt es unterschiedliche Meinungen. Die Spanne, die genannt wird, liegt meist zwischen fünf und fünfzehn Prozent der Werkstattbeschäftigten. Größte Optimisten halten sogar bis zu einem Drittel für vermittelbar. Als vermittlungsfähig gelten dabei die „Leistungsstarken“, was die Angst vor einer „ausblutenden Werkstatt“ oder „Restewerkstatt“ schürt, die mit den verbleibenden Beschäftigten ihre Produktion nicht mehr aufrechterhalten könne. Die Erfahrung der Fachdienste, auch die der werkstatteigenen Fachkräfte für betriebliche Integration, ist allerdings eine andere. Sie besagt, dass nicht die Leistungsfähigkeit das entscheidende Kriterium für eine gelingende Vermittlung ist, sondern die Motivation der Person, ihr fester Wille, in einem Betrieb zu arbeiten und dafür auf die gewohnte Umgebung und die Annehmlichkeiten der Werkstatt zu verzichten.
Die Bereitschaft der Betriebe, auch Personen mit stärkeren Einschränkungen zu beschäftigen, ist erstaunlich hoch. Wenn sie einmal ihr grundsätzliches Einverständnis erklärt haben, das Experiment zu wagen, sehen sie die Eingliederung als gemeinschaftliche Aufgabe an. Paten oder Mentoren zu finden, die Anleitungs- und Betreuungsaufgaben übernehmen, ist für die Jobcoachs so gut wie nie als ein Problem, und die Bereitschaft der Betriebe, auch auftretende Probleme und Rückschläge zu akzeptieren, ist verblüffend hoch.
Allerdings ist diese Zugänglichkeit nicht im gesamten Arbeitsmarkt gleich verteilt. Als besonderes offen erweisen sich kleinere, inhabergeführte Betriebe mit einem Personalstamm von bis zu 20 Mitarbeitern. Kindergärten, Altenheime oder Supermärkte sind häufige Arbeitsfelder, aber auch Jugendherbergen, Bürogemeinschaften oder städtische Bauhöfe. Die Bandbreite der Tätigkeitsfelder ist groß. Ist die Tür einmal geöffnet, finden sich in fast jedem Betrieb immer Nischen, die eine Beschäftigung möglich machen.
Für die Dienste, die in Werkstätten Beschäftigte auf Außenarbeitsplätze begleiten, ist oft nicht die Akquisition von Arbeitsplätzen das Nadelöhr, sondern die Besetzung bereits akquirierter Stellen durch Werkstattbeschäftigte. Die Hamburger Arbeitsassistenz ist so erfolgreich, dass sie ihren Personalstamm von anfangs sechs auf mittlerweile 120 Mitarbeiter ausweiten konnte. Sie vermittelt inzwischen auch Menschen mit Behinderungen, die als erwerbsfähig gelten, ein Hinweis darauf, dass das Konzept der Unterstützten Beschäftigung für alle Personen mit Vermittlungshemmnissen greift. Auf die Ausgangsfrage nach der maximalen Vermittlungsquote lautet nach diesen Erfahrungen die Antwort: Eine absolute Obergrenze gibt es nicht, auch Menschen mit hohem Hilfebedarf können integriert werden. In Hamburg steuern die Werkstätten derzeit 30 Prozent ausgelagerte Arbeitsverhältnisse an, nimmt man die über die Arbeitsassistenz Vermittelten hinzu, liegt der Anteil bei ca. 50 Prozent der prinzipiell Werkstattberechtigten. Bei der Lebenshilfewerkstatt in Bamberg arbeiten ebenfalls ca. 30 Prozent auf „Integra-Plätzen“, also ausgelagerten Einzelarbeitsplätzen. Ähnliche Erfahrungen hat, wenn auch unter anderen Förderbedingungen, Vorarlberg mit den Vermittlungen durch den Fachdienst Spagat gemacht, auch hier ist die Vermittlungsquote vergleichbar hoch. Allerdings wird es immer Menschen geben, die einen geschützten Rahmen benötigen, sei aus aufgrund des hohen Pflegeaufwands, ihres herausfordernden Verhaltens oder anderer Besonderheiten ihrer Beeinträchtigung.
Politik und Verwaltung haben diese positive Entwicklung entweder nicht realisiert oder nicht die richtigen Schlüsse daraus gezogen. Wie sehr sie bis heute in der klassischen Unterteilung von „erwerbsfähig“ und „nicht erwerbsfähig“ denken, wird sichtbar in dem oft verwendeten Begriff der „Fehlplatzierung“, der eine „Richtigplatzierung“ intendiert. Diese Sichtweise versperrt vielen den Weg in den Arbeitsmarkt, der ihnen mit der richtigen Hilfestellung offenstände.


These 3:
Erfolgreiche Vermittlung braucht ein professionelles Team

Ein skeptischer Leser dieses Textes mag sich weiterhin fragen: Wie kann die Vermittlung von stark leistungsgeminderten Werkstattberechtigten gelingen, wenn die Arbeitslosenquote von „erwerbsfähigen“ Menschen mit Behinderungen doppelt so hoch liegt wie im Bevölkerungsdurchschnitt? Die Antwort liegt in der schon erwähnten Unterstützung durch die Jobcoachs. Das Konzept der Unterstützten Beschäftigung ist außerordentlich erfolgreich. Wo die Unterstützung „erwerbsfähigen“ Klienten zu Gute kommt, steigen deren Vermittlungszahlen ebenfalls rapide.
Die bloße personelle Kapazität reicht jedoch nicht. Für den Erfolg bedarf es eines guten Konzepts, professionellen Know-hows und eines vielseitigen Teams. Die Quellen, aus denen sich diese Professionalität speist, sind die Konzepte und Methoden der Unterstützten Beschäftigung, der Sozialraumorientierung und neuerdings auch des Life/Work Plannings. Der Erfolg ist bedingt durch gute Netzwerkarbeit, Kommunikations-, Vermittlungs- und Anleitungsstrategien, betriebliche Mentoren und ein Know-how für Kriseninterventionen. Eine Vermittlung „durch die Hintertür“ basiert auf einem Vertrauenskredit in den Fachdienst. Er gibt dem Betrieb das Versprechen: Ich vermittle Euch eine Person, die zu Euch passt, arbeite sie ein, bis sie die vereinbarten Aufgaben bewältigt und stehe auch später noch bei Schwierigkeiten oder Produktionsumstellungen als Krisenmanager zur Verfügung. Ihr habt den Gewinn, wir lösen die Probleme.
Zu den Wirkfaktoren gehört auch die Umkehr eines Prinzips, das so gut wie nie in Frage gestellt wird, nämlich dem, dass jemand erst qualifiziert werden muss, bevor er vermittelt werden kann. Im offenen Arbeitsmarkt ist diese Reihenfolge logisch, denn hier ist i.d.R. eine abgeschlossene Ausbildung Voraussetzung für die Bewerbung auf eine freie Stelle. Im verdeckten Arbeitsmarkt, in dem sich die Unterstützte Beschäftigung bewegt, gibt es keine Ausschreibungen und keine Auswahlverfahren. Bei dieser Form der Vermittlung führt gerade die Umkehrung der Reihenfolge zum Erfolg: Erst vermitteln, dann qualifizieren. Diese Reihenfolge ermöglicht eine schlanke, zielgerichtete und passgenaue Einarbeitung vor Ort. Eine vorgelagerte Ausbildung muss auf alle Eventualitäten vorbereiten. Sie enthält immer auch Inhalte, die in der späteren Praxis nicht benötigt werden und erfordert eine Transferleistung auf die Realsituation im Betrieb. Die Qualifizierung am Arbeitsplatz kann sich auf die Anforderungen der gestellten Aufgabe beschränken. Für Menschen mit Lernschwierigkeiten ist dies ein entscheidender Vorteil.


These 4:
Ein Vermittlungsdienst ist erfolgreicher, wenn er nicht an die Werkstatt gekoppelt ist

Erfolgreiche Vermittlungen in den Arbeitsmarkt, ob in Festanstellung oder als Werkstattaußenplätze, gelingen überwiegend im Übergang von der Schule ins Arbeitsleben. Der Grund: Beginnt eine Person ihre berufliche Tätigkeit erst einmal in der WfbM, wird sie dort „sozialisiert“ und der Schritt aus der vertrauten Umgebung in einen Betrieb fällt ungleich schwerer. Will man also tatsächlich Wahlmöglichkeiten schaffen, müssen die Jugendlichen nach dem Schulabschluss erst einmal Erfahrungen mit den unterschiedlichen Möglichkeiten sammeln können. Dazu bietet sich die zweijährige Berufsbildungszeit an. Liegt diese aber, wie bisher, in der Zuständigkeit der Werkstatt, ist die Weichenstellung bereits erfolgt. Der bessere Weg ist die berufliche Orientierung und Qualifizierung durch einen Fachdienst, der die Werkstatt als möglichen Arbeitsort einbezieht. Werkstätten mögen dies als Benachteiligung sehen, aus der Sicht der Leistungsberechtigten wird durch ein solches Verfahren jedoch die Wahlfreiheit erst ermöglicht.
Ein weiteres Argument für Abkopplung der Vermittlungsdienste von der Werkstatt ist die höhere Personalkapazität. Die Bedingungen der externen Fachdienste sind hier deutlich besser. In Werkstätten liegt der Betreuungsschlüssel der Jobcoachs bei werkstattüblichen 1:6 im Berufsbildungs- und 1:12 im Arbeitsbereich. Ein großer Teil des Kostensatzes fließt in die Overhead- und Gemeinkosten, die für die Organisation von Werkstattarbeit erforderlich sind. Bei der Hamburger Arbeitsassistenz arbeiten dagegen 90% der Angestellten unmittelbar in der Anleitung. Das führt zu einem Schlüssel von durchschnittlich 1:4 für BBB und Arbeitsbereich. Für 120 Mitarbeiter sind nur 1.000 qm Büro- und Schulungsfläche erforderlich, weil der größte Teil der Arbeit ambulant stattfindet. Die Overheadkosten sind damit ungleich niedriger, was der Vermittlung und Begleitung zu Gute kommt.


These 5:
Gesetzgeber und Kostenträger setzen die Qualität beruflicher Teilhabe fälschlicherweise gleich mit den Qualitätskriterien einer Werkstatt

Die Qualitätsvorgaben des Gesetzgebers und der Kostenträger sind durch die Logik der Werkstätten geprägt. Abzulesen ist dies an den Auflagen der Agentur und der Sozialhilfeträger. Die HEGA der Arbeitsagentur für die im BTHG vorgesehenen „Anderen Leistungsanbieter fordert beispielsweise eine buchstabengetreue Einhaltung der Werkstättenverordnung (WVO). Die Anleitung in einem Betrieb unterliegt jedoch anderen Bedingungen als die im BBB einer Werkstatt und muss deshalb mit anderen Qualitätskriterien definiert werden. Für die Qualifizierung in einem Kleinbetrieb die gleichen Ausstattungsvorgaben vorzugeben wie in einer WfbM, ist integrationshemmend.
Besonders exzentrisch mutet in diesem Zusammenhang die Unflexibilität der Hamburger Sozialbehörde an. Sie will die Arbeitsassistenz nur dann nach dem BTHG als Anderen Leistungsanbieter zulassen, wenn sie ihren jetzigen Schlüssel von 1:4 der Vorgabe der WVO anpasst. Dabei geht es um die Begleitung von Beschäftigten, die nach dem BBB noch nicht vermittelt und damit formal im Arbeitsbereich angesiedelt sind. Der Dienst soll also seine Begleitung auf die Maßzahl der WVO von 1:12 verschlechtern, wenn er diese Möglichkeit weiter nutzen will. Nicht nur in Hamburg, auch in anderen Regionen führen die Neuregelungen des BTHG für die bestehenden Dienste oft zu einer Verschlechterung ihrer bisherigen Angebote.
Ähnlich schwer tun sich übrigens auch die zuständigen Arbeitsverwaltungen und Sozialbehörden, die die reibungslose Kooperation mit den Werkstätten gewohnt sind und neuen Akteuren zum Teil skeptisch gegenüberstehen.


These 6:
In einem Betrieb ist die Leistung behinderter Menschen höher als in einer Werkstatt

Die niedrige Produktivität der Werkstätten hat nicht nur etwas mit der eingeschränkten Leistungsfähigkeit ihrer Beschäftigten, sondern auch mit dem Konstrukt Werkstatt selbst zu tun. Eine große süddeutsche WfbM hat REFA-Fachleute damit beauftragt, die Produktivität ihrer Arbeitsgruppen mit der anderer Betriebe zu vergleichen. Das Ergebnis: Bei den Werkstattbeschäftigten lag sie nur bei ca. 20 Prozent. Gegenüber einer einige Jahre zuvor durchgeführten Messung war sie sogar gesunken. Bei der Hamburger Arbeitsassistenz haben Betriebe andererseits über einen Zeitraum von vielen Jahren Werkstattbeschäftigte zu tariflichen Löhnen eingestellt, ohne eine dauerhafte Lohnsubvention zu erhalten. Wie lässt sich dieser Widerspruch auflösen? Waren diese Arbeitgeber besonders sozial eingestellt und zahlen die Minderleistung aus eigener Tasche? Im Einzelfall wäre dies möglich, aber das erklärt nicht die hunderte von nicht subventionierten Festeinstellungen.
Die Ursache liegt woanders. Die Produktivität einer Gruppe, einer Abteilung oder eines Betriebes ist immer die Summe aller Einzelleistungen. Kommen viele gleichförmige Einschränkungen zusammen, (mangelnde Flexibilität bei geistiger Beeinträchtigung, geringe Kontinuität und hohe Ausfallzeiten bei psychischer Erkrankung), minimiert das die Gesamtproduktivität. Weist eine Gruppe dagegen vielfältige Stärken auf, maximiert die Summe dieser Fähigkeiten die Produktivität. Die Schwächen einzelner Personen fallen dann weniger ins Gewicht, jeder macht das, was ihm besonders liegt und was er besonders gut kann. Für eine in ihrer Flexibilität eingeschränkte Person heißt das: In einem Betrieb übernimmt sie ein überschaubares und zu bewältigendes Aufgabenfeld, erbringt darin aber eine für den Gesamterfolg notwendige Leistung und wird als produktiv wahrgenommen.
Ein Beispiel: Ein junger Mann mit einer erworbenen Hirnschädigung, die sich unter anderem in einer Halbseitenlähmung niederschlägt, arbeitet als Hilfskraft in einem Altenheim. Pflegerische Tätigkeiten kann er nicht übernehmen, auch im hauswirtschaftlichen Bereich wäre er zu langsam. Eingesetzt ist er in der persönlichen Betreuung der Bewohner, bringt sie zu den Therapien, geht mit ihnen spazieren, macht Besorgungen und übernimmt Einzel- und Gruppenangebote: Vorlesen, Singen, Gesellschaftsspiele. Für die alten Leute ist er ein Vertrauter und persönlicher Assistent, den sie mögen und dem sie vertrauen. Damit spielt er im Gesamtangebot des Heims eine wichtige Rolle und ist sein Geld wert. Hätten viele Mitarbeiter des Teams eine vergleichbare Einschränkung, wäre das Heim nicht zu betreiben.


These 7:
Wer die Person mit ihren Interessen, Wünschen und Bedürfnissen in den Mittelpunkt stellen will, muss ihr die Wahl- und Entscheidungsfreiheit ermöglichen

In der Eingliederungshilfe gilt seit dem Erlass des SGB IX im Jahre 2001 das Prinzip des Wunsch- und Wahlrechts. Das Bundesteilhabgesetz aus dem Jahr 2017 hat die Personenzentrierung der Hilfen in den Mittelpunkt gestellt. Beides ist in der beruflichen Teilhabe bisher nur unzureichend verwirklicht. Werkstattvertreter rechtfertigen die vorherrschende Stellung der Werkstätten damit, dass die Wirtschaft sich ja für Werkstattberechtigte nicht öffnet und dass nur die Werkstätten ein vielfältiges und adäquates Angebot für sie bereitstellen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten und der Bundesverband der Werkstatträte schrieb Ende 2018 beispielsweise in einem offenen Brief an das Prüfkomitee für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention: „Solange nicht der allgemeine Arbeitsmarkt den ca. 310.000 Menschen mit Behinderungen in deutschen Werkstätten Perspektiven bietet, machen erst Werkstätten mit ihren verschiedenen passgenauen und personenzentrierten Angeboten den Arbeitsmarkt in Deutschland inklusiv.“
Richtig ist, dass es flankierend zur Tätigkeit im Arbeitsmarkt weiterhin Arbeitsmöglichkeiten im geschützten Rahmen geben muss und dass ein Teil der Werkstattbeschäftigten die Arbeit in der WfbM auch einer Tätigkeit im offenen Arbeitsmarkt vorziehen wird. Die oft beschworene „Wohlfühl-WfbM“ mit der Möglichkeit, mit anderen behinderten Menschen zusammenzuarbeiten, ist aber nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite steht das Selbstwertgefühl, das daraus resultiert, in einem „normalen Betrieb“ zu arbeiten, einen Arbeitsvertrag zu haben, tariflich entlohnt zu werden, nicht mit dem Werkstattbus abgeholt zu werden und auf die Frage nach der beruflichen Tätigkeit nicht antworten zu müssen: Ich arbeite in einer Werkstatt. Diese Auswirkungen einer Inklusion haben für viele Werkstattberechtigte ebenfalls eine große Attraktivität.
Passgenaue Angebote sind zudem eher außerhalb als innerhalb der Werkstatt zu realisieren. Welche Werkstatt kann schon eine Tätigkeit in der Kinderbetreuung oder in einem Pferdehof bieten? In der Werkstatt ist die Zahl der Berufsmöglichkeiten naturgemäß eingeschränkt, im Arbeitsmarkt ist sie um ein Vielfaches höher.
Die kontinuierliche Persönlichkeitsförderung und die arbeitsbegleitenden Angebote in der Werkstatt machen ein Alleinstellungsmerkmal der Werkstätten aus und werden in der Diskussion um Werkstätten gerne betont, wie auch das oben genannte Zitat aus dem Brief der BAG WfbM und der Werkstatträte zeigt. Werkstattbeschäftigte auf Außenarbeitsplätzen verzichten aber häufig auf diese Angebote und wollen nur als Mitarbeiter ihres Betriebes wahrgenommen werden.
Wenn es also ein starkes Interesse an einer Tätigkeit außerhalb der Werkstatt gibt, dann bedeutet „Personenzentrierung der Angebote“, eine berufliche Orientierung mit dem Zugang zum Arbeitsmarkt gleichgewichtig zu ermöglichen, bevor die Entscheidung für die Werkstatt gefallen ist. Soll die Personenlogik die Institutionslogik ablösen, bedarf es eines Budgets, das sich an der Hilfebedürftigkeit orientiert und das die Person in einem Markt unterschiedlicher Angebote einlösen kann. Die Werkstatt wäre dann nur noch ein Angebot unter mehreren, wenn auch nach wie vor ein gewichtiges.


Fazit:
Die Antwort auf Ausgangsfrage, wie die Chancen von Werkstattberechtigen auf dem Arbeitsmarkt stehen, lautet: Sehr viel besser als allgemein angenommen. Allerdings muss es dafür ein Team von professionellen Kümmerern geben, das jedem Leistungsberechtigten diese Möglichkeiten auch verfügbar macht. Es geht nicht um gute oder schlechte Lösungen, sondern die individuell richtige, um Chancen und das Ermöglichen von Wahlfreiheit. Die Methodik für inklusive Wege ist vorhanden und die Bereitschaft der Betriebe, daran mitzuwirken, ist größer, als viele wahrhaben wollen. Die Dienste sollten außerhalb der Werkstatt angesiedelt sein und vor einer Werkstattaufnahme aktiv werden können. Dazu muss die Gesetzgebung geändert werden und ein Umdenken bei Leistungsträgern und Verwaltung einsetzen. Wer den Weg auf den Arbeitsmarkt findet, ist dort oft nicht nur leistungsfähiger als in der Werkstatt, er schöpft auch neues Selbstbewusstsein und legt das Stigma ab, das mit der Werkstatt verbunden ist. Das alleine lohnt es schon, diesen Weg konsequent zu gehen.

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