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Dieter Basener:

Lohngerechtigkeit in der WfbM – Plädoyer für eine Orientierung an Wirtschaft


Wer sich mit dem Thema Entlohnungssysteme in Werkstätten beschäftigt, sollte einen Blick auf die Regelungen im Arbeitsmarkt werfen. Für Arbeiter und Angestellte richtet sich ihre Entlohnung in der Regel nach ihrer Qualifikation und nach der Tätigkeit, die sie ausüben. In Tarifverträgen ist festgelegt, welche Voraussetzungen für die entsprechende Eingruppierung erfüllt sein müssen: Abschlüsse, Berufserfahrung, Weiterbildungen. Höhere Entgeltgruppen stehen im Tarifgefüge für anspruchsvollere Aufgaben. Für Schicht-, Nacht- oder Feiertagsarbeit gibt es Zuschläge. Manchmal werden auch Leistungselemente vereinbart, die in der Regel mit dem Erreichen eines vorgegebenen Ziels verbunden sind. Bis auf die letzte Variante basiert die tarifliche Einstufung in Wirtschaft und öffentlichem Dienst aber auf personenunabhängigen Kriterien. Wer die Qualifizierungsbedingungen erfüllt und eine bestimmte Tätigkeit ausführt, hat nach Tarifrecht Anspruch auf die festgelegte Bezahlung. Leistung und Arbeitsverhalten spielen für die Entlohnung keine Rolle.

Grundbetrag, Steigerungsbetrag, AFG und die durchschnittlichen Entgelte
Beim Entgelt in der Werkstatt gelten andere Regeln. Zunächst einmal: Es wird unterschieden zwischen dem Grundbetrag und dem Steigerungsbetrag. Der Grundbetrag, gleichzeitig das Mindestentgelt, ist unabhängig von Einstufungskriterien und für alle gleich hoch. Er liegt für alle Beschäftigten derzeit bei 80 Euro. Die letzten verfügbaren Zahlen für die durchschnittliche Höhe der Arbeitsentgelte stammen nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten aus dem Jahr 2016. Sie weisen bundesweit einen Mittelwert von 181,25 Euro aus. Der Steigerungsbetrag liegt demnach bei 101,25 Euro. Darin enthalten ist allerdings das Arbeitsförderungsgeld (AFG), eine staatliche Lohnsubvention. 2016 betrug es noch 26 Euro, 2017 wurde es verdoppelt. Ohne den AFG-Betrag haben die Werkstätten 2016 also bundesweit monatlich rund 75 Euro an Steigerungsbetrag ausgeschüttet. Die Unterschiede zwischen den Bundesländern waren beträchtlich: In Sachsen erhielten 2016 nahezu alle Beschäftigten lediglich den Grundbetrag von 80 Euro plus AFG. (Durchschnittsverdienst laut BAG WfbM 105,82 Euro.) Bei den Spitzenreitern Bremen und Hamburg lag der Steigerungsbetrag ohne die AFG-Zulage bei ca. 120 Euro. (Durchschnittsverdienste 227,36 bzw. 225,89 Euro). Innerhalb der einzelnen Bundesländer gibt es Werkstätten mit zum Teil beträchtlichen Abweichungen nach oben. Werkstätten mit guter Auftragslage und hohen Gewinnmargen, etwa als Zulieferer für die Automobilindustrie, den Windanlagenbau oder bei der Fertigung von Elektronikteilen, können durchschnittliche Entgelte zwischen 400 und 600 Euro zahlen. Ausgezahlt werden müssen nach § 12 der Werkstättenverordnung mindestens 70 % des Arbeitsergebnisses, maximal 30 % dürfen für Ersatz und Modernisierung von Geräten und Anlagen oder als Rücklage für Ertragsschwankungen verwendet werden.

Gerechtigkeitsdimensionen der Lohnbewertung: Leistungsgerechtigkeit
Für die Verteilung des Steigerungsbetrags legt der § 138, SGB IX fest, dass er sich an der individuellen Arbeitsleistung der behinderten Menschen zu bemessen habe, „insbesondere unter Berücksichtigung von Arbeitsmenge und Arbeitsgüte“. Die Verteilungskriterien regeln die Werkstätten in ihren Entgeltordnungen. Sie sollen Lohngerechtigkeit herstellen, die – trotz oder gerade wegen des relativ geringen Verteilungsvolumens – für die Beschäftigten eine erhebliche Bedeutung hat. Jede Werkstatt hat ihr eigenes Entgeltsystem, eine Tatsache, die die BAG WfbM künftig mittels einer Empfehlung ändern möchte. Bei den zugrunde gelegten Kriterien für die Verteilung des Steigerungsbetrags orientieren sich die Werkstätten mehrheitlich an den Kriterien des SGB IX, also „Arbeitsmenge“ und „Arbeitsgüte“. Betrachtet man diese Kriterien unter dem Aspekt der Gerechtigkeitsdimensionen, die die Arbeitswissenschaft zur Lohnbemessung entwickelt hat, gehört die Arbeitsmenge in die Dimension der Leistungsgerechtigkeit: Die Höhe der Entlohnung hängt ab von der individuellen Leistung, etwa der gefertigten Stückzahl. Dieses Kriterium bevorteilt die Fitten, Schnellen und Leistungsfähigen und benachteiligt die Leistungsgeminderten, auch dann, wenn diese sich möglicherweise mehr bemühen. Es gibt zudem eine Reihe von Arbeitsfeldern, in denen sich die Leistung nicht in Stückzahlen bemessen und damit eindeutig objektivieren lässt, etwa in der Reinigung, in der Küche oder im Verkauf im Werkstattladen.

Problematisch: Verhaltensgerechtigkeit
Die Arbeitsgüte, das andere im § 138 SGB IX benannte Kriterium, verweist auf eine zweite Gerechtigkeitsdimension, die Verhaltensgerechtigkeit. Eine gute Arbeitsqualität erfordert Sorgfalt und genaues Arbeiten. Zu dieser Dimension gehören auch die Bewertung von Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Sauberkeit am Arbeitsplatz oder Verhalten gegenüber Kollegen, Vorgesetzten oder Kunden. In der Werkstatt stellt das Bewertungskriterium „Verhalten“ einen Ausgleich dar zur reinen Leistungsbemessung. Es bietet eine Kompensationsmöglichkeit für die Benachteiligung von Leistungsschwächeren. Allerdings ist Verhalten nicht in objektiven Kennzahlen abzulesen, sondern erfordert eine Bewertung, in der Regel durch die Gruppenleiter, und öffnet damit der Subjektivität und Ungleichbehandlung die Tür, sowohl innerhalb einer Gruppe als auch zwischen den Gruppen bzw. Abteilungen. Auch aus anderen Gründen ist die Verhaltensdimension in der Lohnbewertung problematisch. Sie bringt eine pädagogische Komponente ins Spiel, ein Druckmittel für erwünschtes Verhalten. Aus guten Gründen spielt die Verhaltensdimension in der tariflichen Lohnbemessung des Arbeitsmarktes keine Rolle. Das Lohnkriterium „Verhalten gegenüber Kollegen, Vorgesetzten oder Kunden“ wäre dort schwer vorstellbar.

Personenunabhängig: Anforderungsgerechtigkeit
Einige Werkstätten sind der Logik der Tarifverträge gefolgt und haben die Entlohnung unabhängig von der Person gemacht. Ihre Gerechtigkeitsdimension ist die der Anforderungsgerechtigkeit. Hier sind nicht individuelle Leistung und Verhalten des Beschäftigten der Bewertungsmaßstab, sondern die Anforderungen der Tätigkeit, das Arbeitsfeld bzw. der konkrete Arbeitsplatz. Je höher die Anforderungen der Arbeit in Bezug auf Ausdauer, Sorgfalt, Flexibilität oder Spezialkenntnissen sind, oder wenn besondere Belastungen vorliegen, desto höher das Entgelt. Um diese Anforderungen zu erfassen und zu gewichten, braucht es die Einschätzung eines Gremiums, das die Arbeitsfelder und Einzelplätze in regelmäßigen Abständen bewertet und zueinander in Beziehung setzt. Dies ist ein aufwändiges Verfahren, das aber die Lohnzahlung unabhängig macht von der individuellen Leistung und vom Verhalten einer Person: Wie bei der tariflichen Eingruppierung in einem Betrieb hat jeder, der auf einem vergleichbaren Arbeitsplatz tätig ist, Anspruch auf das gleiche Entgelt. Relativieren kann man dieses Bewertungskriterium durch einen Zulagenelement im Sinne der Sozialgerechtigkeit: Staffelungen nach Familienstand, Alter oder anderen sozialen Gesichtspunkten, analog zum Orts- bzw. Alterszuschlag in den Tarifverträgen.

Schwer zu realisieren: Qualifikationsgerechtigkeit
Eine weitere Dimension, die, wie eingangs erwähnt, in der Arbeitswelt in die Lohnbemessung eingeht, ist die der Qualifikationsgerechtigkeit. Mitarbeiter mit Universitätsabschluss verdienen im selben Berufsfeld in der Regel mehr als Mitarbeiter mit Hauptschulabschluss. Auch für die Werkstatt wird die Hinzuziehung dieses Kriteriums derzeit in Betracht gezogen. Es soll die Bereitschaft zur Qualifizierung und Weiterbildung erhöhen und zu mehr Abschlüssen und Lehrgangsteilnahmen führen. Allerdings würde dieses Kriterium wieder die Ausbildungsfähigen bevorzugen. Ein Abschluss ist zudem nicht gleichbedeutend mit der Anwendung des erworbenen Wissens in der Praxis. Wird die Qualifikation an einem Arbeitsplatz tatsächlich benötigt, ist sie durch die Anforderungsgerechtigkeit abgedeckt. Auch in der Wirtschaft wird nicht der Abschluss an sich vergütet, sondern er spielt eine indirekte Rolle, weil er die Voraussetzung für die Einstellung auf bestimmten Positionen bildet.

Solidarische Entlohnung
In kleinen Werkstattbetrieben, speziell in der Landwirtschaft oder in anthroposophischen Einrichtungen, gehen die Verantwortlichen bewusst den Weg der gleichen Bezahlung, evtl. ergänzt um kleinere Zulagen für zusätzliche oder belastende Tätigkeiten. Bewertungen oder Leistungserfassungen sind nicht erforderlich. Die Begründung: Alle tragen im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihren Anteil zum wirtschaftlichen Ergebnis bei. Die Lohnsolidarität ist Ausdruck des Teamgefühls und die Beschäftigten erleben sie in der Regel als gerecht. Andere Werkstätten betreiben dagegen einen großen Aufwand mit - zum Teil täglichem - Erfassen von Arbeitsleistungen und Verhalten. Entgeltordnung, so zeigt dieser Gegensatz, sind immer auch ein Spiegel der Werkstattphilosophie und des zugrundeliegenden Menschenbildes. Vollkommene Gerechtigkeit wird ein Entgeltsystem nie herstellen können, der objektive Faktor (die messbare Leistung) und der subjektive Faktor (Motivation und individuelles Bemühen) lassen sich bei der Entlohnung nicht „gerecht“ in Einklang bringen.

Angleichung an die Bewertungskriterien des Tarifrechts
Die für die Entgeltordnung Verantwortlichen können vom Tarifrecht der Wirtschaft lernen und von der individuellen Bewertung stärker zu einer Arbeitsplatzbewertung kommen. Die immer noch sehr dominanten Verhaltensbeurteilungen sind ein Relikt aus den stark pädagogisch orientierten Gründerjahren der WfbM und sollten – im Sinne der Normalisierung und gesellschaftlichen Teilhabe – zurückgefahren werden. Die Frage „Würde unser Betriebsrat, würden wir selber diese Lohnbemessung für uns akzeptieren?“ ist ein guter Maßstab für ein Lohnsystem.

Leitlinien für eine Überarbeitung des Entgeltsystems
Bei der Überarbeitung der Entgeltordnung wächst die Chance auf ein von allen akzeptiertes Ergebnis, wenn die von der Änderung betroffenen Gruppen und Bereiche der Werkstatt beteiligt sind, wenn die neue Ordnung einfach und verständlich ausfällt und wenn sie samt den zugrundeliegenden Prinzipien klar kommuniziert wird. Der Aufwand, der zur Pflege und Überarbeitung des Systems betrieben werden muss, sollte gering gehalten werden. In der Wirtschaft und im öffentlichen Dienst sind mehrjährige Tariflaufzeiten üblich und der zwischenzeitliche Bedarf an Erfassungen bzw. Bewertungen ist durch die Personenunabhängigkeit der Eingruppierung niedrig. Lediglich die Zeiterfassung spielt bei flexiblen Arbeitszeiten eine größere Rolle.

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