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Deutsche Werkstätten im europäischen Vergleich



Sind deutsche Werkstätten in ihrer Größe, ihrer Struktur und ihren Aufgaben noch zeitgemäß? Und wenn sie sich erneuern müssen, in welche Richtung soll die Reform gehen?

Diesen Fragen geht Dieter Basener in seinem Kommentar nach und blickt dabei auch auf die europäische Werkstattlandschaft.


Deutsche Werkstätten im europäischen Vergleich

Sind deutsche Werkstätten in ihrer Größe, ihrer Struktur und ihren Aufgaben noch zeitgemäß? Und wenn sie sich erneuern müssen, in welche Richtung soll die Reform gehen? Diese Fragen sind nicht nur akademisch. Sie werden in Zeiten fortschreitender Inklusion und unter dem Druck der UN-Behindertenrechtskonvention von der Politik und den Medien zunehmend drängender gestellt. Um eine Antwort zu finden, lohnt es sich, einen Blick auf die Europäische Werkstattlandschaft zu werfen. Wo steht das deutsche Werkstättensystem im Vergleich mit den Nachbarn? Und was sind die internationalen Entwicklungstrends für geschützte Arbeitsverhältnisse? Beim Vergleich der Systeme stellt man fest, dass jedes Land seinen eigenen Weg gefunden hat. In den Kriterien „Zielgruppen“, „Bedarfsabdeckung“, „Rechtsstatus und Entlohnung“ sowie „Produktivität“ variieren Werkstätten sehr. Vergleicht man die Länder anhand dieser Bewertungskriterien, ordnet sich Deutschland folgendermaßen in den europäischen Rahmen ein:

- Bei der Zielgruppe liegt unser System (zumindest nominell) nahe am Pol „Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf“. Deutsche Werkstätten sind vor allem für Personen mit geistigen Beeinträchtigungen geschaffen worden. In den benachbarten Niederlanden beispielsweise arbeiten in den Werkstätten überwiegend Personen mit körperlichen Einschränkungen, Menschen mit geistiger Behinderung sind dort meist in einer Tagesstruktur untergebracht. Das gesetzliche Zugangskriterium „Erwerbsunfähigkeit aufgrund der besonderen Schwere der Behinderung“ steuert bei uns den Zugang in diese Richtung, auch wenn es, wie sich zeigt, interpretierbar bzw. dehnbar ist. Während ursprünglich Menschen mit psychischer Behinderung im System gar nicht vorgesehen waren, machen sie heute 20% der Beschäftigten aus. Auch „Lernbehinderte“ gehören nicht zur Zielgruppe − sie gelten als erwerbsfähig. In den Statistiken der einzelnen Werkstätten werden sie aber mit 5-15 Prozent ausgewiesen. Das uns so selbstverständlich erscheinende Zugangskriterium der „Erwerbsunfähigkeit“ ist übrigens im europäischen Kontext nahezu unbekannt. Es gilt lediglich in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

- Bei der Bedarfsabdeckung bzw. bei der absoluten Zahl von Werkstattplätzen ist Deutschland Weltspitze. Die Zahl von 300.000 bedeutet eine Abdeckung von 5 Promille oder einem halben Prozent aller Einwohner zwischen 18 und 65. In strukturschwachen Gebieten wie Sachsen-Anhalt oder Ostfriesland nähert sich die Zahl der 1-Prozent-Marke, fast jeder 100. Einwohner in diesem Alter arbeitet dort mittlerweile in einer Werkstatt. In England, wo die Werkstätten inzwischen aufgelöst sind, gab es nur rund 10.000 Werkstattplätze. Die Niederlande verfügen über 20.000 Plätze in ca. 100 Werkstattbetrieben. Im deutschen Werkstattrecht gewährt der Gesetzgeber allen Leistungsberechtigten einen Rechtsanspruch auf einen Werkstattarbeitsplatz und vermeidet eine Deckelung der Platzzahl, wie sie in anderen Ländern üblich ist. Die Planzahl des Sozialministeriums bei Gründung der Werkstätten im Jahre 1974 leitete sich vom geschätzten Anteil von Menschen mit eindeutiger geistiger Behinderung ab (Kriterium: IQ < 70) und lag bei 60.000. In über 40 Jahren ist die Zahl der Werkstattbeschäftigten jährlich um zwischen 2 und 5 Prozent gestiegen. Das mehrfach prognostizierte Ende des Wachstums hat sich nicht bewahrheitet. Experten sehen mittlerweile den Bedarf an Plätzen beim Personenkreis geistig behinderter Menschen gedeckt, der Anteil psychisch Erkrankter (heute 60.000) kann sich noch steigern: Ca. 700.000 Menschen sind aufgrund einer seelischen Beeinträchtigung ohne Arbeit.

- In Bezug auf die Entlohnung und den Rechtsstatus der Beschäftigten in Werkstätten liegen die deutschen Werkstätten im unteren Bereich. Das Durchschnittsentgelt liegt bei ca.160 Euro im Monat, das ist ein Stundenlohn von etwa einem Euro. 52 Euro „Arbeitsförderungsgeld“ steuert der Bund zusätzlich bei. Das niedrige Einkommen korreliert mit der Freigrenze bei der Hilfe zum Lebensunterhalt. Wessen Einkommen diese Grenze übersteigt, der muss es sich bei der Sozialhilfe anrechnen lassen, eine Tatsache, die bei der Zahlung von Weihnachtsgeld regelmäßig zu Unzufriedenheit führt. Zusätzlich übernimmt der Bund erhebliche Rentenversicherungsleistungen (derzeit monatlich ca. 420 Euro) und nach 20 Jahren erwächst daraus der Anspruch auf eine auskömmliche Erwerbsunfähigkeitsrente. Der spezielle Rechtsstatus und die niedrige Entgeltzahlung wurden in der Werkstattgesetzgebung mit dem Verweis auf die mangelnde Vertragsfähigkeit der Zielgruppe und ihrer dauerhaften Hilfebedürftigkeit begründet (Angewiesensein auf Wohnbetreuung, die von einem höheren Einkommen nichts übrig lässt). Durch die Ausweitung des Personenkreises ist dieses Argument nicht mehr stichhaltig. Dass es auch anders geht, zeigen Frankreich und Belgien, wo Werkstattbeschäftigte ein existenzsicherndes Arbeitseinkommen und Arbeitnehmerrechte erhalten. In Österreich dagegen liegt das Werkstattentgelt deutlich niedriger als bei uns und dort werden auch keine Rentenversicherungsbeiträge gezahlt.

- In Bezug auf die Produktivität liegt das deutsche Werkstättensystem (von einigen Ausnahmen abgesehen) ebenfalls im unteren Bereich. Das hat zum einen mit der Beschäftigtenstruktur zu tun, die in der Regel erhebliche Leistungseinschränkungen aufweisen. Zum andern konkurriert die Zielsetzung Produktivität mit der ebenfalls im Werkstattauftrag verankerten rehabilitativen Ausrichtung, die sich in „Maßnahmen zur Persönlichkeitsentwicklung“ niederschlägt, aber auch das gesamte Werkstattsetting prägt. Die Werkstatt gilt als ein Schutz- und Schonraum. Produktionsdruck, Schicht- oder Wochenendarbeit sollen möglichst vermieden werden. Mit dem dezidierten Rehabilitationsauftrag unterscheidet sich das deutsche Werkstättensystem von anderen europäischen Ländern, wo dieser Auftrag den Werkstattalltag weniger prägt oder gänzlich unbekannt ist.

Wenn wir zurückkehren zur Ausgangsfrage, ob das deutsche Werkstättensystem zeitgemäß ist, ist noch ein weiterer Blick nach Europa hilfreich. Eine mögliche Antwort findet sich in der Empfehlung des EASPD, des Europäischen Dachverbands der Dienstleistungsanbieter für Menschen mit Behinderung. Der EASPD vertritt 15.000 Organisationen in 34 Staaten. Der Verband hat errechnet, dass es in Europa insgesamt drei Millionen geschützte Arbeitsplätze gibt, ein Großteil davon für Menschen mit Behinderungen. In einer verbandsinternen Auseinandersetzung plädierten insbesondere die angelsächsischen Mitglieder dafür, auf geschützte Arbeitsbereiche ganz zu verzichten und die Unterstützung von Arbeitsverhältnissen im ersten Arbeitsmarkt, das „Supported Employment“, zum alleinigen Maßstab zu machen. Dem wollte die Mehrheit der Mitglieder sich nicht anschließen und man einigte sich auf die Formel „Support in Employment“ also „Unterstützung in der Beschäftigung“. Dies ist ein Votum für eine Vielfalt von Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten, in dem der geschützte Arbeitsmarkt weiterhin für notwendig erachtet wird.

Allerdings ist dieses Votum der EASPD zum Erhalt geschützter Arbeitsbereiche an drei Bedingungen geknüpft, die das deutsche Werkstättensystem zurzeit nicht erfüllt:

1.) Die Arbeit soll so gestaltet sein, dass die Beschäftigten über einen Arbeitnehmerstatus verfügen, einen Arbeitsvertrag erhalten und Zugang zur Gewerkschaftsvertretung haben.

2.) Die Arbeit soll nach allgemein üblichen Kriterien entlohnt werden. In Deutschland müsste das Entgelt somit über dem gesetzlichen Mindestlohn liegen.

3.) Die Arbeit soll nicht dauerhaft als Rehabilitation angelegt sein. Der Rehabilitationsgedanke wird zwar als sinnvoll erachtet, wenn er auf die (Wieder-) Befähigung und die Eingliederung in den Arbeitsprozess ausgerichtet und zeitlich befristet ist. Danach muss es sich aber um ein reguläres Arbeitsverhältnis ohne pädagogische oder therapeutische Intentionen handeln.

Fazit: Das deutsche Werkstättensystem ist in seiner Entstehung stärker als andere Systeme auf den Personenkreis von Menschen mit geistiger Behinderung und hohem Unterstützungsbedarf ausgerichtet, was nicht verwundert, denn die treibende Kraft hinter der Werkstattbewegung der 50er und 60er Jahre waren Elternverbände, insbesondere die Bundesvereinigung Lebenshilfe. Entsprechend sind die deutschen Werkstätten bis heute positioniert: Keine Arbeitnehmerrechte, eine niedrige Entlohnung, eine verhältnismäßig niedrige Produktivität, dafür eine starke rehabilitative Ausrichtung im Sinne einer lebenslangen Persönlichkeitsentwicklung. Weltweit einmalig ist die Etablierung eines Rechtsanspruchs auf berufliche Teilhabe in der Werkstatt für alle Leistungsberechtigten. Dadurch erhalten in Deutschland auch Menschen einen Arbeitsplatz, die anderswo keine Chance auf Arbeit hätten. Der Anteil der Personen, für die die Werkstatt ursprünglich nicht gedacht war, ist allerdings über 40 Jahre permanent gestiegen. Diese Tatsache und die Überlegung, ob die behindertenpolitischen Grundhaltungen der Nachkriegszeit heute noch zeitgemäß sind, lassen die Forderungen der EASPD auch für Deutschland bedeutsam erscheinen. Sollen die drei Bedingungen auch für die Werkstattarbeit hierzulande gelten?

Auf einer Fachtagung am 2. Mai 2018 in Fulda stellt die Europaakademie diese Frage in den Mittelpunkt und lädt dazu deutsche und europäische Referenten und Diskutanten ein. Neben der gesetzlichen Grundlage der Werkstattarbeit, Arbeitnehmerstatus, Entgelt und Rehabilitationsauftrag stehen auch Fragen des Kundennutzens, einer nachfrageorientierten Qualifizierung und Bildung sowie einer Neuorientierung der Werkstatt als Dienstleister für die Gemeinde, die Stadt und die Region auf der Tagesordnung.

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