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Fortbildungsinstitut für Teilhabe und Inklusion


Änderungsbedarf in Werkstätten für behinderte Menschen – 12 Vorschläge
Vorschlag 8: Verzicht auf das Kriterium der Erwerbsunfähigkeit als Voraussetzung für die Gewährung von Werkstattleistungen
Von Dieter Basener



Werkstätten für behinderte Menschen wurden im Jahr 1974 im Schwerbehindertenrecht verankert und sind damit über 40 Jahre alt. Seit ihrer Gründung haben sich viele Planungsgrößen, Leitvorstellungen und Zielsetzungen verändert. Einige Beispiele:

• Die Zahl der Werkstattplätze ist fünfmal so hoch wie ursprünglich geplant.

• Seit der Einführung des SGB IX ersetzen Autonomie und Selbstbestimmung das pädagogische Leitbild der Fürsorge.

• Die UN-Behindertenrechtskonvention gibt Inklusion als gesellschaftliches Ziel vor, Sondereinrichtungen stehen auf dem Prüfstand.

Es ist Zeit, die Werkstattgesetzgebung einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Welche Regelungen haben sich überlebt? Welche Hilfen können heute eine berufliche Teilhabe ermöglichen, wie soll sie aussehen und welche Rolle sollen die Werkstätten dabei spielen?

Diese Beitragsreihe benennt Probleme und Fehlentwicklungen und macht Vorschläge für die geplante Gesetzesnovellierung.

Folge 8 befasst sich mit dem Kriterium der Erwerbsunfähigkeit als Zugangsvoraussetzung für eine Werkstattleistung und fordert einen individualisierten und abstufbaren Unterstützungsanspruch

Ein wesentlicher Grund für das seit vierzig Jahren ununterbrochene Wachstum beim Bedarf an Werkstattplätzen liegt in dem Alles-oder-Nichts-Prinzip der Hilfe: Entweder man ist erwerbsfähig und kann trotz seiner Behinderung auf dem Arbeitsmarkt tätig sein, oder man ist es nicht. Wer als hilfebedürftig gilt, hat einen uneingeschränkten Anspruch auf Leistungen, die für andere beeinträchtigte Menschen verlockend erscheinen: Arbeit und Tagesstruktur, soziale Einbindung, finanzielle Sicherheit, EU-Rente nach 20 Jahren, auskömmliche Altersrente. Das üppige Leistungspaket führt dazu, dass immer mehr Personen aus dem Graubereich der Definition eine besondere Hilfebedürftigkeit auch für sich proklamieren. Der Preis, den sie zahlen, ist das Gefangensein im „goldenen Käfig Werkstattbedarf“, ablesbar an den niedrigen Vermittlungszahlen. Es ist zu vermuten, dass eine einmal vorgenommene Zuordnung im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung die Entwicklung einer Person behindert und die Bedürftigkeit erst erzeugt bzw. festigt, die sie ausgleichen soll. Die Attraktivität der Leistungen, gepaart mit der Schwierigkeit eines Wiederausstiegs, macht die Verfünffachung von Werkstattplätzen gegenüber der ursprünglichen Planung erklärbar. Der in der Gesetzgebung häufig zu beobachtende Versuch, die Welt in simplifizierende Polaritäten von bedürftig und nicht bedürftig zu unterteilen, ist gescheitert, das Ziel, Hilefleistungen auf die wirklich Bedürftigen zu beschränken, hat sich in sein Gegenteil verkehrt. Wenn in Sachsen-Anhalt nach dem Kennzahlenvergleich der Sozialhilfeträger von 2012 fast jeder hundertste Einwohner im arbeitsfähigen Alter zwischen 18 und 65 in einer WfbM arbeitet (bundesweit ist es jeder 176.), sollte das zu denken geben. Die Systematik, nach der behinderte Menschen Unterstützung beim Zugang zur Arbeitswelt erhalten, ist seit vierzig Jahren unverändert. Sie findet sich in Kapitel 5 des SGB IX „Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben“ und enthält die Unterteilung des Personenkreises Menschen mit Behinderung in diejenigen, die auf dem Arbeitsmarkt tätig sein können und die, die dazu aufgrund der Art und Schwere ihrer Behinderung nicht in der Lage sind. Für die erste Gruppe sah der Gesetzgeber mit der Novelle des Schwerbehindertengesetzes 1974 eine Erstausbildung in Berufsbildungswerken oder eine Umschulung in Berufsförderungswerken vor. Ihre Anstellung in Betrieben erleichterte er mit Eingliederungszuschüssen, Kostenerstattungen und Zuschüssen für Arbeitshilfen. Für zweite Gruppe schuf er Werkstätten für behinderte Menschen als Ersatzarbeitsmarkt. Als Trennlinie zwischen beiden Empfängergruppen gilt bis heute die Einschätzung, ob jemand trotz einer Behinderung erwerbsfähig oder aufgrund der Schwere seiner Behinderung nicht erwerbsfähig ist. Der Begriff Erwerbsunfähigkeit wird allerdings bereits im Rentenrecht verwendet und da die Bezugsberechtigten der beiden Gesetze nicht deckungsgleich sind, ist er im Behindertenrecht mit der Formulierung umschrieben, dass behinderte Menschen „wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden können“ (SGB IX, § 136, 1). Dies wird bei Menschen mit einer geistigen Behinderung grundsätzlich angenommen, bei Menschen mit Körper-, Sinnes- oder seelischen Behinderungen bedarf es eines Gutachtens. Eine Durchlässigkeit der Trennung wollte das Gesetz mit dem Auftrag an die Werkstätten herstellen „den Übergang geeigneter behinderter Menschen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt durch geeignete Maßnahmen zu fördern“ (SGB IX, § 41, 2). Dass dies nur bei 0,15 Prozent der Beschäftigten, also nicht einmal bei 2 von 1000 im Jahr gelingt, scheint für die Trennschärfe dieser Unterteilung zu sprechen. Offenbar will der Gesetzgeber mit seiner Zweiteilung zwischen bloßer Arbeitsfähigkeit und Erwerbsfähigkeit unterscheiden. Erwerbsfähigkeit ist damit eine Eigenschaft, die das Bestreiten des eigenen Lebensunterhalts ermöglicht. Die Werkstatt wäre dagegen für Personen gedacht, die zwar arbeitsfähig sind, sich aber aufgrund ihrer Leistungseinschränkung nicht von Lohnarbeit ernähren können. Explizit formuliert ist die Absicht im Gesetz nicht, sondern es legt dies durch die gewählte Fomulierung lediglich nahe. Um den Personenkreis einzugrenzen, ist auch eine Untergrenze der Arbeits- und Leistungsfähigkeit in der Werkstatt definiert. Sie liegt in dem vielzitierten „Mindestmaß verwertbarer Arbeitsleistung“. Tatsächlich arbeiten in den Werkstätten erheblich leistungsgeminderte Personen. Allerdings entwickeln sich viele Werkstattbeschäftigte durch die vielfältigen Arbeitsanforderungen in den oberen Bereich des Leistungsspektrums. Die Grenzen der Leistungsfähigkeit erweisen sich als fließend. Sie sind nur zum Teil durch die Behinderung und mindestens ebenso sehr durch die Bedingungen bestimmt, unter denen sie tätig ist. Deshalb war das Erwerbsfähigkeitskriterium als Voraussetzung für einen Leistungsbezug von Beginn an nicht so eindeutig, wie es den Anschein hatte und es wurde durch die Entwicklungen seit 1974 noch fragwürdiger:

- Die gesetzlich abgesicherte Finanzierung ermöglichte den Werkstätten nach ´74 Investitionen in eine gute Maschinenausstattung. Damit verloren sie schnell ihren „Bastelstubencharakter“ und entwickelten sich zu ernsthaften Wettbewerbern im Wirtschaftsmarkt. Ein Besucher in der Produktionshalle einer WfbM erkennt kaum einen Unterschied zu anderen Betrieben. Diese Tatsache erfüllt die Werkstätten mit Stolz, denn sie zeigt, wie ernst sie ihren Auftrag zur Teilhabe am Arbeitsleben nehmen. Der Besucher fragt sich jedoch nicht zu Unrecht, ob der Beschäftigte an der CNC-Maschine seine Tätigkeit nicht auch in einem anderen Betrieb ausüben könnte.

- Noch deutlicher wird der Widerspruch durch die seit einigen Jahren im SGB IX verankerte Möglichkeit, dass Werkstattbeschäftigte unbefristet auf einem Außenarbeitsplatz tätig sein können. Der Werkstattmitarbeiter arbeitet also mit Unterstützung eines Integrationsbegleiters eindeutig im allgemeinen Arbeitsmarktes, bezieht dabei aber weiterhin einen (meist aufgestockten) Werkstattlohn, der nur selten das gesetzliche Mindestlohnniveau erreicht und steht weiterhin in einem „arbeitnehmerähnlichen Beschäftigungsverhältnis“.

- Vollends in Frage gestellt wird die Systematik dadurch, dass Personen mit einem attestierten Anrecht auf einen Werkstattplatz mittlerweile auch auf einen sozialversicherungspflichtigen und tariflich entlohnten Arbeitsplatz in einem Betrieb wechseln können. Die Werkstattkosten werden dabei in einen Mix aus personeller Unterstützung und Lohnsubvention umgewandelt, finanziert durch das Budget für Arbeit, das demnächst bundesweit eingeführt werden soll.

- Zur Verwirrung trägt auch die widersprüchliche Auslegung von Erwerbsunfähigkeit in den Rechtssystemen bei. Das Rentenrecht macht sie „bei Krankheit oder Behinderung“ nach einer Reform konsequent an der zeitlichen Belastbarkeit der Person fest und definiert sie durch eine Obergrenze von weniger als drei Stunden täglich. Von einem Werkstattbeschäftigten fordert der Gesetzgeber dagegen eine Bruttoregelarbeitszeit zwischen 36 und 40 Stunden pro Woche und sieht kürzere Arbeitszeiten nur in begründeten Ausnahmefällen vor. Dabei sind die Varianten der Erwerbsunfähigkeit zumindest „verwandt“: Werkstattbeschäftigte gelten nach einer Wartezeit auch rentenrechtlich als erwerbsunfähig. Nach 20 Rentenbeitragsjahren erhalten sie automatisch den Anspruch auf eine EU-Rente. Und noch ein Hinweis: Schwerbehinderte mit Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente, etwa psychisch Erkrankte, können in der Werkstatt tätig werden, ohne dass ihr Rentenanspruch darunter leidet.

Der Gesetzgeber hat im Schwerbehindertengesetz bzw. in der Gesetzgebung zur Eingliederungshilfe, wie erwähnt, den Begriff der Erwerbsfähigkeit gar nicht als Kriterium verwendet, sondern mit der Formulierung umschrieben: Leistungsberechtigt ist, wer „wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden kann“ (SGB IX, § 136, 1). Eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt an sich ist aber, wie die obige Sammlung zeigt, schon lange kein geeignetes Unterscheidungskriterium mehr. Werkstattplätze können auch in Betrieben angesiedelt sein, die Einrichtung solcher Plätze wird den Werkstätten gesetzlich sogar nahegelgt. Auch die UN-Behindertenrechtkonvention verlangt die Zugänglichkeit des Arbeitsmarktes für alle Menschen mit Behinderungen. Schon deshalb muss die Zugangsdefinition dringend neu gefasst werden, eine vorgebliche „Nicht-Beschäftigungsfähigkeit im Arbeitsmarkt“ als Vorausetzung für eine Leistungsgewährung ist mit der Konvention unvereinbar. Aber auch dann, wenn stattdessen der intendierte Erwerbsfähigkeitsbegriff verwendet würde, bliebe die Trennlinie, wie die genannten Beispiele zeigen, fragwürdig. Denn wer mit dem Budget für Arbeit für seine Tätigkeit im Arbeitsmarkt einen Lohn bezieht, kann von seinem Verdienst seinen Lebensunterhalt bestreiten. Er bleibt hilfebedürftig, ist aber nicht erwerbsunfähig.

Was also ist zu tun? Ein Teil der Lösung liegt, auch wenn dies im Sinne einer Eindämmung der Werkstattkosten zunächst paradox klingen mag, in der Aufhebung der bisherigen Zielgruppenbeschreibung von Werkstätten. Statt der veralteten Formulierung, jemand kann „nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden“ oder anderer Versuche, Erwerbsunfähigkeit zu definieren, sollte die Werkstatt als eine unter mehreren Möglichkeiten zur Teilhabe am Arbeitsleben beschrieben werden. Die Nutzer dieser Angebote müssen schwerwiegende Vermittlungshemmnisse aufweisen, aber nicht zwingend schwerbehindert sein. Eine Werkstattleistung sollte dann gewährt werden, wenn andere Möglichkeiten sich als nicht gangbar erweisen oder wenn sie für den speziellen Bedarf einer Person anderswo nicht verfügbar ist. Die Höhe der Vergütung muss abhängig sein vom Unterstützungsbedarf und deshalb individuell ermittelt werden. Da die Werkstatt in diesem System nur eine von mehreren Angeboten ist, kann ihre Kapazität, wie in anderen Ländern auch, kontingentiert werden. Das führt dazu, dass weniger Personen als bisher Werkstattangebote nutzen.

Für die Werkstätten bedeutet dies, dass sie ihre Struktur stark verändern müssen. Damit der Prozess in Gang kommt, sollten neue Träger mit spezialisierten Angeboten zugelassen werden. Dies würde auch die bestehenden Einrichtungen dazu zwingen, eine sehr viel stärkere Binnendifferenzierung bereitzustellen. Die differenzierte Werkstatt neuen Typs muss arbeitsintensive Bereiche anbieten, die die Zahlung eines Mindestlohns ermöglichen, aber auch Menschen mit sehr hohem Unterstützungsbedarf gerecht werden. Der Förder- und Betreuungsangebot darf nicht mehr einheitlich vorgegeben sein, Der Bedarf muss individuell ermittelt werden.

Damit die Alternativen in der beruflichen Teilhabe überhaupt greifen und der Automatismus Förderschule-WfbM unterbrochen wird, sollte vor eine Werkstattbewilligung immer ein intensiver Versuch vorgeschaltet sein, einen Zugang zum Arbeitsmarkt zu erreichen. Der zweijährige Berufsbildungsbereich und bei Bedarf weitere Zeiten der Erprobung sollten konsequent einer breiten Berufsorientierung und beruflichen Eingliederung dienen und nicht von der Werkstatt organisiert werden. Als langfristige Möglichkeiten beruflicher Teilhabe kommen neben einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, ggf. über das Budget für Arbeit, auch ausgelagerte Werkstattplätze mit der Zahlung eines Mindestlohns in Frage, die der Leistungserbringer nach individuellem Aufwand vergütet erhält. Teilzeitarbeit, Kombinationen von Tätigkeiten im Arbeitsmarkt mit Werkstattangeboten, Bildung und kreative Tätigkeiten sind weitere Alternativen.

Ein solches System, aufgehängt an einer Neudefinition des Werkstattzugangs, ausgestattet mit einem individualisierten Hilfebudget und flankiert von vermehrten und deutlich unterscheidbaren Angeboten, könnte die Krise der beruflichen Teilhabe in Deutschland beheben. Es würde der Werkstatt ihre Existenz garantieren und die befürchtete Beschränkung auf einen schwerst mehrfachbehinderte Personen verhindern. Vor allem würde es, wie im SGB IX längst garantiert, das Wunsch- und Wahlrecht für Menschen ermöglichen, die bisher allein auf die Werkstatt angewiesen sind. Für die Werkstätten dürfte ein solcher Umstrukturierungsprozess nicht schmerzfrei verlaufen, tiefgreifende Systemumstellungen können eine Organisation aber auf eine neue und gesunde Basis stellen.

Zusammenfassung: Die Definition einer strikten Trennlinie zwischen nicht erwerbsfähigen, werkstattberechtigten und erwerbsfähigen, nicht werkstattberechtigten Menschen mit Behinderung war von Beginn an fragwürdig und ist durch neuere Entwicklungen und die UN-Behindertenrechtskonvention untragbar geworden. Sie sollte abgelöst werden durch eine am Unterstützungsbedarf der Person orientierte Zugangsberechtigung zu Angeboten beruflicher Teilhabe, die unterschiedliche Wege öffnet und andere Zielgruppen mit einschließt. Werkstattplätze sollten kontingentiert, das Angebot differenziert und individuell vergütet und neue Anbieter am Markt zugelassen werden.

Senden Sie Anmerkungen, Hinweise und Kritik an diesem Interview gerne direkt an martin.hofmockel@europa-akademie.info

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