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Fortbildungsinstitut für Teilhabe und Inklusion


Änderungsbedarf in Werkstätten für behinderte Menschen – 12 Vorschläge
Vorschlag 7: Erweiterung und Flexibilisierung des Begriffs „Teilhabe am Arbeitsleben“

Von Dieter Basener



Werkstätten für behinderte Menschen wurden im Jahr 1974 im Schwerbehindertenrecht verankert und sind damit über 40 Jahre alt. Seit ihrer Gründung haben sich viele Planungsgrößen, Leitvorstellungen und Zielsetzungen verändert. Einige Beispiele:

· Die Zahl der Werkstattplätze ist fünfmal so hoch wie ursprünglich geplant.
· Seit der Einführung des SGB IX ersetzen Autonomie und Selbstbestimmung das pädagogische Leitbild der Fürsorge.
· Die UN-Behindertenrechtskonvention gibt Inklusion als gesellschaftliches Ziel vor, Sondereinrichtungen stehen auf dem Prüfstand.

Es ist Zeit, die Werkstattgesetzgebung einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Welche Regelungen haben sich überlebt? Welche Hilfen können heute eine berufliche Teilhabe ermöglichen, wie soll sie aussehen und welche Rolle sollen die Werkstätten dabei spielen?

Diese Beitragsreihe benennt Probleme und Fehlentwicklungen und macht Vorschläge für die geplante Gesetzesnovellierung.

Folge 7 befasst sich mit der eng gefassten, wenig flexiblen Definition des Begriffs „Teilhabe am Arbeitsleben“ und fordert seine Ausweitung

Die Entstehung des Werkstattgedankens in den späten 50er Jahren basierte auf den Ideen des in Skandinavien entwickelten Normalisierungsprinzips. Menschen mit geistiger Behinderung sollten so leben wie andere Menschen auch und die üblichen Leistungen und Möglichkeiten jedes Lebensalters in Anspruch nehmen können. Das Ziel war ein gleichberechtigtes Leben in der Gesellschaft. Für das Erwachsenenleben ist Arbeit ein zentrales Element. Deshalb sollten nach Überzeugung von Niels Erik Bank-Mikkelsen und Bengt Nirje auch geistig behinderte Menschen arbeiten können, ihre Fähigkeiten einsetzen, Leistung erbringen und Anerkennung erfahren. Der amerikanische Soziologe Wolf Wolfensberger entwickelte das Normalisierungsprinzip weiter. Er war überzeugt, dass unser Beruf über die Rolle entscheidet, die wir in der Gesellschaft spielen. Die berufliche Tätigkeit prägt danach das Bild, das unsere Umwelt von uns hat, ebenso wie unsere Selbstwahrnehmung und unser Selbstwertgefühl. Für Menschen mit geistiger Behinderung war die Chance zur Arbeit ein großer Schritt nach vorn: Von bloßen Objekten der Fürsorge wurden sie zu produktiven Mitgliedern der Gesellschaft. Die Einschränkung aus heutiger Sicht: Die volle Anerkennung blieb ihnen mit der Tätigkeit in einer Werkstatt versagt.

Nicht nur im Bereich Arbeit, sondern auch in anderen Lebensbereichen bewirkte das Normalisierungsprinzip eine Neuausrichtung der Behindertenhilfe. Bestand sie vorher überwiegend in stationären Angeboten, also in der Unterbringung in Heimen und Anstalten, begann jetzt die Ära der wohnortnahen und teilstationären Hilfen, der Sonderkindergärten, Sonderschulen, Werkstätten und Wohnheime. Diese Angebote wurden mit erheblichen Mitteln finanziert, ein beachtenswerter Kraftakt, wenn man bedenkt, dass sich nur zwei Jahrzehnte zuvor noch die Ideologie des „lebensunwerten Lebens“ in vielen Köpfen festgesetzt hatte.

Zur Teilhabe am Arbeitsleben schuf der Gesetzgeber ein weltweit einmaliges System. Er umfasste nicht nur, wie in anderen Ländern, ein begrenztes Kontingent an Werkstattplätzen, sondern schrieb für alle Leistungsberechtigten einen Rechtsanspruch auf Arbeit fest. Sie können dieses Recht allerdings nur in der WfbM einlösen. Der Widerspruch zum Grundgedanken des Normalisierungsprinzips, „so viel Normalität wie möglich, soviel Besonderheit wie nötig“, war anfangs nur wenigen bewusst. So wurden Werkstätten zum Erfolgsmodell. Aus den kleinen, handwerklich ausgerichteten „beschützenden Werkstätten“ wurden Großbetriebe mit durchschnittlich 400 Arbeitsplätzen, mit ihrem hohen Anteil von Verpackungs- und Montagetätigkeiten geprägt vom Leitbild der industriellen Erwerbsarbeit. Nach 40 Jahren liegt die Versorgungsdichte mit Werkstattplätzen nicht mehr wie ursprünglich geplant bei einem, sondern bei über fünf Promille. Im Bundesdurchschnitt kommt ein Werkstattplatz auf 170 Personen im arbeitsfähigen Alter. In Sachsen-Anhalt arbeitet bereits fast jeder hundertste Einwohner zwischen 18 und 65 in einer WfbM.

Für Menschen mit geistiger Behinderung hat sich die Möglichkeit zur Werkstattarbeit faktisch zu einer Pflicht gewandelt. An der Werkstatt kommen sie kaum vorbei, der Übergang von der Förderschule in die WfbM ist vorgezeichnet. In der Regel ist für ihren Wohnort nur ein Werkstattträger zuständig, der eine begrenzte Anzahl von Tätigkeitsfeldern bietet. Ein Ausweichen auf eine andere Werkstatt wäre aber nur eine bescheidene Alternative, denn alle Werkstätten sind nach dem gleichen Muster konstruiert, wie ein Anzug, der allen passen soll. Die Entlohnung ist einheitlich niedrig, pädagogische Betreuung und Persönlichkeitsförderung sind obligatorisch und nicht abwählbar, individuelle Berufswünsche, etwa die Arbeit mit Kindern, die Tierpflege, das Bäcker- oder Metzgerhandwerk, lassen sich nur in Ausnahmefällen realisieren. Wenige Werkstätten bieten künstlerische Betätigungsmöglichkeiten, obwohl Menschen mit Behinderung gerade darin besondere Fähigkeiten entwickeln.

Was soll sich ändern?

Für die anstehende Reform der Eingliederungshilfe sollte die Festlegung auf den Werkstatttyp der 70er Jahre grundsätzlich überdacht werden. Das Normalisierungsprinzip ist nach wie vor eine gute Richtschnur für die Weiterentwicklung. Die Frage lautet: Wie sieht berufliche Normalität heute aus? Welche Formen der Berufstätigkeit gibt es, wie verändern sie sich? Mit dem Festhalten an der Produktionstätigkeit in Vollzeitform hinkt das Werkstättenrecht erkennbar hinter der Entwicklung der letzten 40 Jahre her. Für die meisten Menschen ist sie zwar noch das gängige Arbeitsmodell. Viele nutzen aber mittlerweile – zumindest zeitlich begrenzt – auch andere Möglichkeiten: Teilzeitarbeit, eine Elternpause, ein Sabbatjahr als kreative Auszeiten, Weiterbildungen und Umschulungen zur beruflichen Neuorientierung. Eine lebenslange Festlegung auf einen einmal eingeschlagenen Weg gehört der Vergangenheit an, beruflicher Wechsel ist die neue Normalität.

Wenn wir uns daran orientieren, beinhaltet eine zeitgemäße berufliche Teilhabe unter anderem eine intensive Berufsfindung, die Alternativen zur WfbM einschließt, die Chance zur Neuausrichtung auch in späteren Phasen, Bildungsangebote mit der Möglichkeit qualifizierter Abschlüsse, Teilzeittätigkeit oder künstlerische Arbeit. Der Leistungsberechtigte muss zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten wählen und selbst über seine Lebensgestaltung entscheiden können. Er sollte sich jederzeit neu orientieren, die Arbeit seinen jeweiligen Bedürfnissen anpassen und den Beruf ausüben können, den er ausüben möchte.

Dies bedeutet nicht, dass jede Werkstatt neben BBB und Produktionsbereich auch ein Kunst- und Theaterangebot oder Projekte der Erwachsenenbildung bereitstellen muss. Es gehört ebenfalls zu den Fehlentwicklungen des Systems, dass alle Leistungen aus einer Hand kommen sollen. Deshalb sollte die Reform neben der Öffnung des Leistungskatalogs auch das Einheitlichkeitsgebot und den Gebietsschutz für Anbieter streichen. Dann würden sich schon bald spezialisierte Dienste und Angebote etablieren, die Wahlalternativen für die unterschiedlichen Wünsche und Bedürfnisse der Betroffenen sicherstellen. Mit den Aufwendungen der Eingliederungshilfe, die heute die Arbeit in der Werkstatt finanzieren, wären solche Wahlmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung ohne Mehrkosten realisierbar.

Zusammenfassung: Auf der Basis des Normalisierungsgedankes wurde in Deutschland die Teilhabe am Arbeitsleben für Menschen mit geistiger Behinderung durchgesetzt, dabei aber einseitig auf Produktionsarbeiten in Werkstätten begrenzt und in eine sehr rigide Form gegossen. Die Reform der Eingliederungshilfe bietet die Möglichkeit, dies zu korrigieren.

Senden Sie Anmerkungen, Hinweise und Kritik an diesem Interview gerne direkt an martin.hofmockel@europa-akademie.info

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