Januar 2015

Newsletter EUROPA-Akademie

Fortbildungsinstitut für Teilhabe und Inklusion


Änderungsbedarf in Werkstätten für behinderte Menschen – zwölf Vorschläge
Vorschlag 6: Verzicht auf den Förderauftrag der WfbM



Die Werkstätten wurden im Jahr 1974 erstmalig im Schwerbehindertenrecht verankert und sind damit 40 Jahre alt. Seitdem hat sich viel getan:

· Die Zahl der Werkstattplätze ist fünfmal so hoch wie ursprünglich geplant.
· Seit der Einführung des SGB IX ersetzen Autonomie und Selbstbestimmung die pädagogische Leitvorstellung der Fürsorge.
· Die UN-Behindertenrechtskonvention gibt Inklusion als gesellschaftliches Ziel vor, Sondereinrichtungen stehen auf dem Prüfstand.

Es ist Zeit, die Werkstattgesetzgebung einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Welche Vorgaben haben sich überlebt? Welche Hilfen braucht berufliche Teilhabe heute und welche Rolle sollen die Werkstätten dabei spielen?

Diese Beitragsreihe benennt Probleme und Fehlentwicklungen und macht Vorschläge für eine Gesetzesnovellierung.

Folge 6 befasst sich mit der pädagogisch-therapeutischen Ausrichtung der Werkstätten und fordert die Abschaffung des Förderauftrags der WfbM

Wer Werkstätten für behinderte Menschen verstehen will, muss auf die Zeit ihrer Entstehung zurückgehen. In den frühen 70er Jahren des letzten Jahrhunderts herrschte Aufbruchstimmung: Der Schwung der 68er war mit der Regierung Willy Brandts in der Politik angekommen. Sie wollte alte Zöpfe abschneiden und neue Wege beschreiten. Die wirtschaftliche Situation war günstig für Reformvorhaben, die neue Leistungen schufen.

In der Eingliederungshilfe gab es nach den Euthanasieprogrammen des Dritten Reichs und den auch nach dem Krieg in der Bevölkerung noch tief verwurzelten Vorstellungen vom „lebensunwerten Leben“ einen besonderen Bedarf an neuer Orientierung. Die bot der Normalisierungsgedanke von Niels Erik Bank-Mikkelsen, den der Schwede Bengt Nirje und der Deutsch-Amerikaner Wolf Wolfensberger zum Normalisierungsprinzip weiterentwickelten. Danach sollten die in der Gesellschaft üblichen Standards für jeden Bürger gelten, auch für Menschen mit geistiger Behinderung. Dazu gehörte u.a. der Respekt vor dem Individuum, das Recht auf Selbstbestimmung, ein normaler Ablauf des Lebenszyklus sowie im Erwachsenleben ein Recht auf Arbeit und die Trennung der Bereiche Arbeit, Freizeit und Wohnen.

Aus diesem modern anmutenden Ansatz entwickelten sich, angestoßen von Elterninitiativen, die ersten Beschützenden Werkstätten. Arbeit in Betrieben war zu dieser Zeit für die Meisten noch undenkbar und von den Elten aufgrund ihrer erst wenige Jahre zurückliegenden Erfahrungen auch nicht gewünscht. Die Pädagogik hatte eben erst angefangen, die Medizin als Leitdisziplin in der Behindertenhilfe zu verdrängen. Wurde Behinderung zuvor als Krankheit betrachtet, die eine geringe Chance auf Heilung hatte, sah man sie nun als Gegenstand der Sonderpädagogik. Die postulierte die Möglichkeit einer lebenslangen Entwicklung und schrieb eine immer größer werdende Verselbständigung auf ihre Fahnen.

Der sonderpädagogische Anspruch fand mit dem Begriff einer dauerhaft angelegten „Persönlichkeitsentwicklung“ Eingang in die Werkstatt-Gesetzgebung, allerdings mit Verzögerung. Als im Jahre 1974 die „Werkstatt für Behinderte“ erstmals ins Schwerbehindertengesetz aufgenommen wurde, sucht man den Auftrag zur Persönlichkeitsentwicklung noch vergeblich. Er wurde erst in der Werkstättenverordnung von 1980 festgeschrieben und ging dann auch in das SGB IX ein, das bis heute in § 39 die Leistungen in anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen so definiert: „(Sie) werden erbracht, um die Leistungs- oder Erwerbsfähigkeit der behinderten Menschen zu erhalten, zu entwickeln, zu verbessern oder wiederherzustellen, die Persönlichkeit dieser Menschen weiterzuentwickeln und ihre Beschäftigung zu ermöglichen oder zu sichern.“ In anderen europäischen Werkstattsystemen gibt es den Doppelauftrag von Arbeit und Pädagogik so dezidiert nicht, was beim Vergleich häufig zu Verwirrung führt.

Mit der doppelten Zielsetzung „Arbeit und Persönlichkeitsentwicklung“ erhielt die Werkstatt ihre bis heute prägende Note. Sie ist nicht einfach ein Betrieb für behinderte und nichtbehinderte Menschen, sondern als „Zweckbetrieb“ organisiert und dieser Zweck besteht in der Verminderung von Behinderung bzw. von deren Auswirkungen. Die pädagogisch-therapeutische Ausrichtung ist, bei aller guten Absicht, defizitorientiert. Sie spricht Werkstattbeschäftigten eine ausgereifte Persönlichkeit ab, hält die in einer Abhängigkeit von lebenslanger pädagogischer Fürsorge, nimmt ihnen die Chance zum Erwachsenwerden und verhindert eine gleiche Augenhöhe mit dem Personal.

Für die Werkstätten ist ihre pädagogische Ausrichtung bis heute von zentraler Bedeutung. Sie bildet ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber inklusiven Formen beruflicher Teilhabe und entlastet von der Forderung nach auskömmlichem Entgelt. („Wir haben doch einen anderen Auftrag.“) Ihre Ausprägung hat sich aber in den vergangenen Jahren geändert. „Moderne“ Werkstattpädagogik versteht sich nicht mehr als Förderpädagogik, sondern als Form der Erwachsenenbildung. Als Ausgangspunkt wird nicht mehr das Defizit der Beschäftigten benannt, sondern die Idee des lebenslangen Lernens. Regelmäßige Förder- oder Entwicklungsplanung für alle bleibt aber gesetzlich vorgeschrieben, sie wird vom Kostenträger eingefordert und überprüft. Werkstätten müssen bis heute für jeden Beschäftigten in vorgegebenen Zeitabständen Entwicklungsziele benennen und Maßnahmen zu ihrer Umsetzung dokumentieren. Oft liegen diese Ziele in der Vorbereitung auf einen Übergang in den Arbeitsmarkt, der dann doch Utopie bleibt. Der defizitorientierte Gedanke lebenslanger (Zwangs-)Förderung lebt weiter, wenn auch als alter Wein in neuen Schläuchen.

Die Grundausrichtung der Werkstatt auf Persönlichkeitsförderung wirkt antiquiert und widerspricht den Prinzipien der Selbstbestimmung und Normalisierung. Verstärkt wird der Charakter des „wohlmeinenden Zwangs“ durch das Postulat der Einheitlichkeit der Werkstatt, das für jeden Leistungsempfänger die gleiche Behandlung vorsieht. Lebenslange Pädagogik als verordnete Leistung entspricht nicht dem Willen der Beschäftigten und zwingt sie in eine Rolle, die andere erwachsene Menschen – insbesondere als Arbeitnehmer – aufbegehren ließe.

Der Doppelauftrag der Werkstätten muss also fallen. Auch in Zeiten der Inklusion besteht ihre Aufgabe weiterhin darin, Arbeit für ihre Beschäftigten organisieren, aber als gemeinsame Tätigkeit ohne eine pädagogische Zwei-Klassen-Gesellschaft. Qualifizierungs- und Weiterbildungsangebote sind weiter sinnvoll, allerdings ohne flächendeckende Förderplanung und in einem Umfang, wie sie gewünscht oder produktionstechnisch erforderlich und in anderen Betrieben üblich sind. Die Kompetenz des pädagogischen Fachpersonals wird weiter gebraucht, wenn auch in veränderter Form: Im Zugang zum Arbeitsmarkt sollten die Pädagogen vermehrt Erprobungs- und Begleitungsmöglichkeiten bieten, werkstattintern sollten sie sich als Betriebs-Sozialarbeiter begreifen, die sich um gesundheitliche und soziale Problemlagen aller Beschäftigten kümmern.



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