Newsletter EUROPA-Akademie

Fortbildungsinstitut für Teilhabe und Inklusion


Änderungsbedarf in Werkstätten für behinderte Menschen – 12 Vorschläge
Vorschlag 10: Neudefinition des Sozialen Dienstes der WfbM als Betriebssozialarbeit
Von Dieter Basener



Werkstätten für behinderte Menschen wurden im Jahr 1974 im Schwerbehindertenrecht verankert und sind damit über 40 Jahre alt. Seit ihrer Gründung haben sich viele Planungsgrößen, Leitvorstellungen und Zielsetzungen verändert. Einige Beispiele:

• Die Zahl der Werkstattplätze ist fünfmal so hoch wie ursprünglich geplant.
• Seit der Einführung des SGB IX ersetzen Autonomie und Selbstbestimmung das pädagogische Leitbild der Fürsorge.
• Die UN-Behindertenrechtskonvention gibt Inklusion als gesellschaftliches Ziel vor, Sondereinrichtungen stehen auf dem Prüfstand.
Es ist Zeit, die Werkstattgesetzgebung einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Welche Regelungen haben sich überlebt? Welche Hilfen können heute eine berufliche Teilhabe ermöglichen, wie soll sie aussehen und welche Rolle sollen die Werkstätten dabei spielen? Diese Beitragsreihe benennt Probleme und Fehlentwicklungen und macht Vorschläge für die geplante Gesetzesnovellierung.

Folge 10 befasst sich mit der Rolle des Sozialen Dienstes in der WfbM und fordert dessen Neuausrichtung als Betriebssozialarbeit für alle

Sozialpädagogen sind in der WfbM für die Wahrnehmung des „Reha-Auftrages“ zuständig. Gemeinsam mit anderen Berufsgruppen wie Pflegekräften, Fachkräften für Sport und hin und wieder auch festangestellten Psychologen bilden sie nach gängigem Sprachgebrauch den „Begleitenden Dienst“. Ihr Arbeitsfeld ist eine Mischung aus Förder- und Entwicklungsplanung, Aufnahmemodalitäten, Kostenanerkenntnis- und Berichtswesen-Bürokratie und Sozialarbeit für die Beschäftigten. Innerbetrieblich fechten sie mit den für die Produktion zuständigen KollegInnen häufig offene oder verdeckte Kämpfe um die „Lufthoheit“ aus. Die beiden Aufträge der Werkstatt, Produktion und Rehabilitation, lassen sich nicht immer gut vereinbaren. Ein typisches Konfliktfeld liegt in der Freistellung von Beschäftigten für ein begleitendes Angebot trotz eines wichtigen Produktionsauftrags. Hinter solchen Auseinandersetzungen steckt meist ein Kampf um Einfluss, Bedeutung und Vorherrschaft in der Werkstatthierarchie.

Dass Werkstätten für behinderte Menschen ihre Beschäftigten fördern müssen, ist weniger selbstverständlich, als dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Wer eine Werkstatt in den Niederlanden besucht, wird feststellen, dass dort die lebenslange Persönlichkeitsförderung mit Förderplanung und Entwicklungsberichten an die Kostenträger unbekannt sind und dass die Werkstätten auch kein Fachpersonal für solche Aufgaben haben. Wer in Holland für die Bedeutung der Persönlichkeitsförderung in der Werkstatt eintritt, erntet höfliches Kopfschütteln.

In die deutsche Werkstättengesetzgebung hat der Fördergedanke über den Begriff der „Rehabilitation“ Einzug gefunden. Er ist der Medizin entlehnt und bezeichnet die Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit einer Person nach Erkrankung oder Unfall. Bei einer von Geburt an bestehenden kognitiven Beeinträchtigung ist er nicht ganz korrekt, denn es handelt sich nicht um die Regeneration einer verlorenen Fähigkeit und auch nicht um eine zeitlich begrenzte Phase, sondern um eine lebenslange Förderung mit dem Ziel, die Behinderung und ihre Folgen immer mehr zu kompensieren und ein Leben in möglichst großer Selbständigkeit und Eigenverantwortung zu ermöglichen. Diese Rehabilitations-Idee entspricht der Aufbruchsstimmung in der Sonder- bzw. Behindertenpädagogik der 60er und 70er Jahre, die die Werkstattgesetzgebung geprägt und die pädagogisch-therapeutische Ausrichtung der Werkstatt begründet hat (siehe Folge 6 dieser Reihe). Lebenslange Förderpädagogik will über den regelmäßigen Planungs- und Kontrollprozess viele kleine Entwicklungsfortschritte erreichen, durch ihre permanente Außensteuerung behindert sie aber übergeordnete Ziele wie Eigenverantwortung und Selbstbestimmung. Unmerklich zementieren die Strukturen die Unselbständigkeit, die sie überwinden sollen. Pädagogik ist nach dem griechischen Wortsinn ja Knaben- bzw. Kindererziehung und nicht für erwachsene Menschen bestimmt.

Der Förderauftrag gibt der Werkstatt, die die Teilhabe am Arbeitsleben herstellen soll, eine für die Arbeitswelt untypische Beziehungsstruktur. Sie schafft ein besonderes Macht- und Abhängigkeitsverhältnis zwischen Betreuten und Betreuern, wie es alle pädagogischen und therapeutischen Beziehungen prägt. Der Gesetzgeber hat aus gutem Grund für pädagogische und therapeutische Beziehungen, etwa Lehrer-Schüler- oder Arzt-Patienten-Verhältnisse etc., besondere Schutzregeln erlassen, damit der „mächtigere“ Partner seine Überlegenheit nicht zum Nachteil der Abhängigen ausnutzt. In der Werkstatt sind daher, anders als in einem anderen Betrieb, Freundschaften zwischen Betreuern und Betreuten selten. Jenseits der professionellen Ebene bleibt man unter sich, selbst Einladungen zum Geburtstag sind unüblich, ein deutliches Anzeichen dafür, dass es sich in erster Linie um eine pädagogische Situation und nicht um die Arbeit am gemeinsamen Produktionsauftrag handelt.

Menschen mit einer geistigen Behinderung stehen meistens in mehrfachen pädagogischen Abhängigkeiten: Sie sind abhängig von Gruppenleitern und Sozialpädagogen in der Werkstatt, vom Personal im Wohnbereich und oft auch noch von den Eltern oder einem gesetzlichen Betreuer. Für psychisch Erkrankte ist die Situation kaum besser. Ein Werkstattmitarbeiter berichtete mir einmal, er habe in den letzten fünf Jahren mit über 20 Therapeuten und Sozialpädagogen zu tun gehabt.

Und noch eine negative Auswirkung hat das Konzept einer lebenslangen Persönlichkeitsförderung: Es verstärkt den Stigmatisierungseffekt. Schon die Aufnahmebedingung in eine Werkstatt, die „Nicht-Vermittlungsfähigkeit aufgrund einer besonderen Schwere der Behinderung“ wirkt als Makel. Die Botschaft heißt: Hier arbeiten die, die nirgends sonst arbeiten können. Eine scheinbar lebenslang erforderliche pädagogische bzw. therapeutische „Behandlung“ verfestigt diese Einschätzung und rundet das Gesamtbild ab. Sie entfaltet ihre schädigende Wirkung nicht nur für die Betrachter von außen, sondern auch für das pädagogische Personal und für die Betroffenen selber.

Wer bisher nur das deutsche Werkstättensystem kennengelernt hat, wird an dieser Stelle vielleicht erstaunt fragen, was denn die Alternative zum Förder- und Entwicklungsauftrag der Werkstatt wäre. Die Antwort lautet: Werkstattbeschäftigte nicht anders zu behandeln als andere Erwachsene, das heißt, Werkstattbeschäftigte nicht zuerst unter dem Gesichtspunkt der Behinderung zu betrachten, sondern als Bürger mit den gleichen Rechten wie andere Mitbürger auch. Wenn dieser bürgerliche Gleichheitsgedanke im Mittelpunkt unserer Arbeit steht, wirkt eine lebenslange Förderung und Pädagogisierung befremdlich. Jeder von uns hat Entwicklungspotentiale, aber niemand möchte sich sein Leben lang zwangsweise in seiner Persönlichkeit weiterentwickeln lassen. Wir wollen selber entscheiden, ob wir neue Erfahrungen machen, uns neue Ziele stecken wollen und das nicht in einem vorgegebenen Turnus. Die meisten von uns würden sich gegen eine solche Behandlung zur Wehr setzen: Erwachsen sein heißt doch selbstbestimmt sein. Bleibe ich ewig ein unfertiger Mensch, dessen Persönlichkeit unausgereift ist und der eine sonderpädagogische Behandlung benötigt? In der Behindertenarbeit gilt diese Bevormundung seltsamerweise als besondere Qualität.

Machen wir also den Bürgergedanken zur Grundlage der Werkstätten und schaffen den Förderauftrag ab. Und mit ihm auch die anderen Elemente, die die Werkstatt von jeher von einem normalen Arbeitsplatz unterscheiden: Das arbeitnehmerähnliche Rechtsverhältnis, das Vorenthalten eines Arbeitsvertrags, die beschämende Entlohnung und die unterschiedlichen Entlohnungskriterien von Personal und behinderten Beschäftigen (bei Werkstattbeschäftigten spielen Leistung und Wohlverhalten oft eine so zentrale Rolle für die Lohnhöhe, dass dies ein dringender Fall für die Gewerkschaft wäre), die unterschiedlichen Vertretungsgremien Betriebsrat und Werkstattrat, die ungleichen Informationen über betriebliche Entwicklungen. Besprechungen, bei denen es um die Belange behinderter Beschäftigter geht und in denen nicht zumindest einer ihrer Vertreter beteiligt sind, sollten der Vergangenheit angehören, ihre Mitwirkung an konzeptionellen Fragen der WfbM selbstverständlich sein. Und schließlich ist da noch eine scheinbare Nebensächlichkeit mit hohem Symbolwert: Unterschiedlichen Toiletten für behinderte Beschäftigte und Personal, wie es sie in den meisten Werkstätten bis heute gibt, sollten der Vergangenheit angehören.

Den größten Einschnitt bedeutet diese Neuausrichtung für die Pädagogen: Sie müssen ihr sonderpädagogisches Selbstverständnis durch eine neue berufliche Ausrichtung ersetzen: die der Betriebssozialarbeit. Ihre Zuständigkeit erstreckte sich dann gleichermaßen auf Angestellte wie auf Beschäftigte, allerdings sehr viel klarer als heute als Beratungs- und Unterstützungsangebot, das die Betreffenden auch ausschlagen können. Förder- und Entwicklungsplanung wird ersetzt durch die Fortbildungsangebote, die sich aus den betrieblichen Erfordernissen ergeben, Freiwilligkeitscharakter haben, in der Regel integrativ angelegt sind und gemeinsam mit den Nutzern geplant werden. In den oben beschriebenen Streitfällen entscheiden über Teilnahme oder Nichtteilnahme nicht die Produktions- oder Rehaverantwortlichen, sondern die Beteiligten selber. Notwendige Behandlungen einer akuten Erkrankung gehören, wie im sonstigen beruflichen Alltag, in den Privatbereich, pflegerische Hilfen zur Ausübung der Tätigkeit wären selbstverständlich weiterhin möglich.

Die pädagogische und therapeutische Macht der Werkstatt wäre mit einer solchen Neuausrichtung gebrochen, betriebliche Normalität hielte Einzug. Das bestimmende Element wäre die gemeinsame Arbeit an den Produktionsaufträgen. Die Werkstatt würde zu einem Betrieb mit behinderten Menschen, der das Thema Behinderung nicht in den Mittelpunkt stellt. Wie gesagt: Wer sich eine solche WfbM nicht vorstellen kann, sollte einmal ins benachbarte Holland fahren.

Zusammenfassung
Ein Verzicht auf den Förderauftrag der WfbM hat Konsequenzen für das Selbstverständnis der in der Werkstatt tätigen Pädagogen. Sie müssen ihre Rolle als Betriebssozialarbeiter definieren, die für alle Mitarbeiter des Betriebes zuständig sind. Beim Abbau von Sonderbehandlungen in der WfbM gibt es noch sehr viel mehr zu ändern: Gleiche Rechte und Arbeitsverträge, die Einführung des Mindestlohns und gleicher Entlohnungskriterien, das Zusammenführen der Vertretungsgremien, gleiche Informationen für alle Beschäftigten, eine andere Mitwirkungs- und Besprechungskultur, die behinderte Menschen nicht mehr zu Objekten macht und dem Motto folgt: Nicht über uns ohne uns. Ziel ist ein Betrieb, der nicht von pädagogischem Ungleichgewicht geprägt ist und in dem jeder an seinem Platz am unternehmerischen Erfolg des Unternehmens mitarbeitet.

Senden Sie Anmerkungen, Hinweise und Kritik an diesem Interview gerne direkt an martin.hofmockel@europa-akademie.info

Haben Sie Fragen oder Anregungen?

Sie möchten unseren Newsletter Ihren Kollegen oder Bekannten empfehlen?

Unter www.europa-akademie.info können Sie sich in unseren Verteiler eintragen.

Wenn Sie künftig keinen Newsletter mehr erhalten möchten, genügt ein kurzer Hinweis per Mail.



Diese Mail wird verschickt von der
Europa-Akademie - Institut für Teilhabe und Inklusion
Kochsberg 1
37276 Meinhard-Grebendorf
Tel.: +49 5651 3394053
E-Mail: info@europa-akademie.info

Impressum
Die Europa-Akademie, Institut für Teilhabe und Inklusion, ist ein Geschäftszweig der

Werraland Werkstätten e.V.· Hessenring 1 · D-37269 Eschwege
Tel.: +49 5651 926-0 · Fax: +49 5651 926-150

Ust.-ID-Nr: DE 111820883 · AG Eschwege / VR: 321
Geschäftsführender Vorstand: Gerd Hoßbach
Verantwortlich für den Inhalt des Newsletters: Martin Hofmockel
Für Datenschutz - und Haftungshinweis klicken Sie HIER.