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Fortbildungsinstitut für Teilhabe und Inklusion


Änderungsbedarf in Werkstätten für behinderte Menschen – 12 Vorschläge
Vorschlag 9: Öffnung und Neuausrichtung des Berufsbildungsbereichs
Von Dieter Basener



Werkstätten für behinderte Menschen wurden im Jahr 1974 im Schwerbehindertenrecht verankert und sind damit über 40 Jahre alt. Seit ihrer Gründung haben sich viele Planungsgrößen, Leitvorstellungen und Zielsetzungen verändert.

Einige Beispiele:
• Die Zahl der Werkstattplätze ist fünfmal so hoch wie ursprünglich geplant.
• Seit der Einführung des SGB IX ersetzen Autonomie und Selbstbestimmung das pädagogische Leitbild der Fürsorge.
• Die UN-Behindertenrechtskonvention gibt Inklusion als gesellschaftliches Ziel vor, Sondereinrichtungen stehen auf dem Prüfstand.

Es ist Zeit, die Werkstattgesetzgebung einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Welche Regelungen haben sich überlebt? Welche Hilfen können heute eine berufliche Teilhabe ermöglichen, wie soll sie aussehen und welche Rolle sollen die Werkstätten dabei spielen? Diese Beitragsreihe benennt Probleme und Fehlentwicklungen und macht Vorschläge für die geplante Gesetzesnovellierung.

Folge 9 befasst sich mit dem Einstieg ins Berufsleben und fordert eine Öffnung und Neuausrichtung des Berufsbildungsbereichs sowie die lebenslange Möglichkeit zur beruflichen Umorientierung

Warum ist der Zugang zum Arbeitsmarkt aus der Werkstatt heraus so viel seltener und langwieriger als bei der Hamburger Arbeitsassistenz oder dem Fachdienst Spagat in Vorarlberg? Am Personenkreis kann es nicht liegen, denn auch die Arbeitsassistenz und Spagat arbeiten für Personen mit Werkstattberechtigung. Sicher: Ihre primäre Aufgabe ist es, ihre Klienten in Betriebe zu vermitteln. Aber dies ist auch der Auftrag der Werkstätten.

Vergleicht man die Herangehensweise an das Thema Vermittlung, dann zeigt sich, dass viele Werkstätten keine spezielle Systematik für den Übergang entwickelt haben. Wenn doch, dann setzt sie meist erst nach dem Berufsbildungsbereich an (von Ausnahmen wie Integra Mensch in Bamberg oder den Elbe-Werkstätten in Hamburg abgesehen). Sie betrifft eine kleine Auswahl „geeigneter Kandidaten“ und setzt oft Vorabqualifizierungen oder die Bewährung in einer Übergangsgruppe voraus. Am Ende steht in der Regel keine Festvermittlung (die bundesweite Übergangsquote von 0,15 % im Jahr hat sich auch durch die Fachdienste für betriebliche Integration nicht verändert), sondern ein ausgelagerter Werkstattplatz.

Fachdienste wie die Hamburger Arbeitsassistenz und Spagat holen ihre Teilnehmer schon beim Übergang von der Schule ins Berufsleben ab und erproben nach einem kurzen Vorlauf die beruflichen Möglichkeiten direkt in Betrieben. Wenn Motivation und Eignung für eine bestimmte Tätigkeit feststehen und die betrieblichen Bedingungen günstig sind, setzt die Einarbeitung ein. Manchmal schon nach kurzer Zeit, gelegentlich auch erst nach deutlich mehr als zwei Jahren, wechseln sie auf eine Festanstellung mit tariflicher Entlohnung. Nur 10-20 % der Klienten finden keine betriebliche Perspektive.

Wie gesagt, Werkstätten und Vermittlungsdienste definieren ihre Aufgabe unterschiedlich. Werkstätten haben den gesetzlichen Auftrag, Arbeitsplätze zunächst einmal selber bereitzustellen. Vermittlung ist ihr sekundäres Ziel, das mit dem primären durch den Verlust von besonders fähigen Mitarbeitern in Widerspruch geraten kann. Auf Dauer muss auch das wirtschaftliche Ergebnis stimmen. Vermittlungsdienste sehen ihren Erfolg vor allem in der Anzahl ihrer Vermittlungen.

Wirklich erklärbar wird die erstaunliche Differenz in den Vermittlungen aber erst über die Unterschiede in der pädagogischen Philosophie. Die WfbM stehen in der Tradition der Beschützenden Werkstätten. Sie verstehen sich als Schonraum für Menschen, die dem harten Berufsleben in der Wirtschaft nicht gewachsen sind. Ihre Grundhaltung ist die des Schützens, ihr Handeln von Vorsicht geprägt. Fachdienste setzen dagegen bewusst auf ein kalkuliertes Risiko. Ihre Grundhaltung ist das Zutrauen und die Bereitschaft zum Erproben.

Beide Haltungen spiegeln sich in den Beschäftigten bzw. zu Vermittelnden. Zutrauen führt zu Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein und letztlich zum Vermittlungserfolg, ist der Nährboden für Entwicklungen. Das Prinzip des Schonens und Beschützens nährt Selbstzweifel und mindert das Selbstvertrauen, verstärkt das Sicherheitsbedürfnis und macht anfällig für Misserfolge. Die daraus resultierende Stagnation wird leicht als Folge der Behinderung missinterpretiert. „Es hat schon seinen Grund, dass der hier ist, dieser oft gehörte Satz ist häufig nichts anderes als ein Zirkelschluss der Helfer, die nicht bemerken, dass sie die Hilfebedürftigkeit letztlich selber herbeiführen. Dieser blinde Fleck betrifft auch die „mangelnde Vermittelbarkeit“, die aus den niedrigen Vermittlungszahlen ablesbar zu sein scheint.

Was hier der Deutlichkeit halber mit kräftigen Strichen gezeichnet ist, hat in der Realität sicher mehr Facetten. Schutzräume sind nicht per se falsch, Schutz kann notwendig sein und es kann gute Gründe geben, in der Werkstatt zu arbeiten. Nicht jeder möchte oder kann auf dem Arbeitsmarkt tätig sein. Und längst nicht alle Werkstattmitarbeiter entmutigen ihre Beschäftigten beim Übergang auf den Arbeitsmarkt. Der Fehler liegt nicht in den handelnden Personen, sondern in der Konstruktion der Werkstätten, ihrem Auftrag und ihren gesetzlichen Vorgaben. Das hat Konsequenzen für die Neuausrichtung der beruflichen Teilhabe. Die Konsequenzen betreffen vor allem den Einstieg ins Berufsleben.

Für den Übergang von der Schule in die Arbeitswelt hat der Gesetzgeber analog zum Ausbildungssektor den Berufsbildungsbereich konzipiert. Die zweijährige Qualifizierung kann nur in einer WfbM absolviert werden. In Hamburg gibt es eine Ausnahme von dieser Regel, die sich anzusehen lohnt: Die Hamburger Arbeitsassistenz führt seit Langem im Auftrag der Werkstätten als „Dienstleister“ BBB-Maßnahmen durch, ohne selber eine Werkstattanerkennung zu haben. Sie nutzt den BBB zur beruflichen Orientierung, zur Anbahnung und Festigung von Arbeitsverhältnissen sowie zur Vermittlung von Schlüsselqualifikationen: Kommunikations- und Konfliktfähigkeit, Kooperation und Kundenorientierung. Die Teilnehmer lernen die Arbeitswelt kennen und werden darauf vorbereitet, sich in ihr sicher und erfolgreich zu bewegen. Die Qualifizierung in ihrer eigentlichen Tätigkeit im Betrieb geschieht nicht in einem speziellen Ausbildungsgang, sondern vor Ort und „am Objekt“, angeleitet von Arbeitsbegleitern. Insbesondere für Menschen mit geistiger Behinderung mit eingeschränkter Generalisierungsfähigkeit ist dieses „Training on the job“ einer der Vermittlung vorgeschalteten Qualifizierung überlegen.

Viele Werkstätten und die BAG WfbM tendieren aktuell dazu, die Berufsbildung an den Ausbildungsgängen der Wirtschaft auszurichten und daraus eigene Qualifizierungs- oder Teilausbildungsgänge abzuleiten. Über den Europäischen Qualifikations-Rahmen können diese auf spätere Berufsabschlüsse angerechnet werden. Auch wenn diese standardisierte Fachqualifizierung im Einzelfall im Sinne des Teilnehmers sein kann, sollte sie nicht der Hauptinhalt des Berufsbildungsbereichs sein. Der Einstieg ins Berufsleben benötigt eine Phase des Kennenlernens, des Erfahrungen-Sammelns und Sich-Erprobens. Wie soll jemand eine selbstbestimmte Berufswahl treffen, wenn er die Wahlmöglichkeiten nicht aus eigener Erfahrung kennt? Dies gilt besonders für Jugendliche mit intellektuellen Einschränkungen. Außerdem wird eine intensive und ausschließliche Vorbereitung auf eine Spezialtätigkeit der beruflichen Wirklichkeit – auch in Werkstätten – nicht mehr gerecht. Um- und Neuorientierungen während des Berufslebens sind nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Deshalb ist es sinnvoller, Schlüsselqualifikationen statt Spezialkenntnisse zu vermitteln. Wer einen Abschluss haben will oder ihn für seinen speziellen Berufswunsch braucht, sollte ihn individuell erwerben.

Wenn das übergeordnete Ziel der beruflichen Bildung künftig nicht mehr die „Eingliederung in die WfbM und deren Arbeitsfeldern“ ist, sondern das „Ermöglichen einer selbstbestimmten beruflichen Teilhabe“, muss der BBB als Einstiegs- und Schlüsselbereich für die Berufswahl und Berufsausübung anders strukturiert werden:

- Er sollte nicht mehr ausschließlich an die Werkstattzulassung des Anbieters gekoppelt sein, sondern auch bei Fachdiensten oder anderen Trägern absolviert werden können.
- Er sollte zeitlich viel flexibler angelegt sein als bisher. Der Anspruch sollte verkürzt und später wieder aufgenommen werden können. Die „Stückelung“ der Anspruchszeiten eröffnet die Möglichkeit, sich auch nach dem BBB beruflich neu zu orientieren, in ein anderes Arbeitsfeld oder eine andere Form beruflicher Teilhabe zu wechseln.
- In begründeten Fällen müssen auch längere Qualifizierungszeiten möglich sein. Qualifizierung ist aber nicht zwangsläufig an die Kostenträgerschaft der Arbeitsagentur geknüpft.
- Dem geänderten Verständnis sollte auch das Fachkonzept der Bundesagentur folgen. Es sollte der beruflichen Orientierung den notwendigen Platz einräumen und der Vermittlung von Schlüsselqualifikationen Vorrang vor Ausbildung gewähren. Auf die geforderte Einteilung der Teilnehmer in vier Qualifizierungsstufen sollte es verzichten. Sie verengt den Blick und weckt negative Erwartungshaltungen bezüglich der Vermittlungschancen.

Die Finanzierung beruflicher Teilhabe darf nicht weiter an eine Institution oder Maßnahmeform gebunden, sondern muss individuell auf den Leistungsberechtigten zugeschnitten sein und unabhängig vom Ort der Teilhabe gelten. Die Gesetzgebung darf nicht länger die schützende und behütende Grundhaltung fördern. Sie muss das Erproben und Ermutigen ermöglichen und ein Leben und Arbeiten in der Gemeinschaft zum Ziel haben. Mit diesem neuen Geist der Gesetzgebung und unter dem Druck der konkurrierenden Fachdienste werden sich, wie das Beispiel Hamburg zeigt, auch die Werkstätten ändern. Sie werden ihrerseits den BBB zur beruflichen Erprobung nutzen und Qualifizierungsgänge im Arbeitsmarkt aufbauen. Der geschlossene und defensive „Schutzraum WfbM“ kann sich öffnen.

Zusammenfassung

Der Berufsbildungsbereich bietet die Möglichkeit zu einer vielfältigen beruflichen Orientierung im Berufseinstieg. Er darf nicht nur im Rahmen der Werkstatt offenstehen, sondern muss auch von anderen Diensten angeboten werden. Neben der Orientierung und Erprobung muss er besonderes Gewicht auf die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen legen. Auch im späteren Berufsleben sollten Möglichkeiten der Neuorientierung und Neuqualifizierung gegeben sein. Das System der beruflichen Teilhabe muss statt von der Dominanz des Schutzgedanken von einem Klima des Zutrauens und der Ermutigung geprägt sein.

Senden Sie Anmerkungen, Hinweise und Kritik an diesem Interview gerne direkt an martin.hofmockel@europa-akademie.info

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