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Angst vor dem Stigma: „Zwei Jahre lang habe ich die Werkstatt verheimlicht.“

Ein Interview mit Sabine Weber von Dieter Basener

Ist es ein Makel, in einer Werkstatt für Behinderte zu arbeiten? Es gibt viele Berichte darüber, dass Beschäftigte das so erleben. Werkstätten tendieren dazu, den Stigmatisierungseffekt zu ignorieren oder kleinzureden. Lehnt jemand eine Werkstattaufnahme ab, bezeichnet man ihn als „Werkstattverweigerer“ oder gar als „Werkstattallergiker“. Die Gründe für seine Verweigerung werden ihm persönlich angelastet und weniger in einer tatsächlich drohenden Entwertung gesehen. Liegt da eine kollektive Verdrängung vor? Haben die Werkstätten hier ihren blinden Fleck? Wir sollten uns ernsthaft mit den Befürchtungen und Erfahrungen der Betroffenen auseinandersetzen, wenn diese einmal so offen geäußert werden, wie in dem folgenden Beispiel:

Auf den Beitrag im letzten Newsletter der Europa-Akademie mit dem Titel „Werkstätten − ein vollwertiger Teil der Arbeitswelt?“ hat Leserin Sabine Weber (Name geändert) einen Leserbrief geschrieben. Darin schildert sie ihre Situation: Sie ist vor einigen Jahren psychisch erkrankt, bezog Erwerbsminderungsrente und musste, um zu einer Teilzeitbeschäftigung zu kommen, einen Werkstattplatz annehmen. Die Werkstatt war für sie zwar nur ein Durchgangsstadium zur Festanstellung, dennoch war es eine negative Erfahrung. Sie befürchtete eine massive Abwertung in ihrem sozialen Umfeld und sogar den Verlust ihrer Familie, sollte ihre Werkstattzugehörigkeit bekannt werden, und versuchte diese Folgen durch ein zweijähriges Versteckspiel zu verhindern. Neben ihrer sicher nicht unbegründeten Sorge vor einer Stigmatisierung hat mich bei ihrer Schilderung die Aussage besonders berührt, dass sie sich, wie sie sagt, „behindert machen lassen“ musste, um die für sie notwendige Unterstützung zu bekommen. Lesen Sie selbst:

Dieter Basener: Frau Weber, Sie haben geschrieben, dass Sie gegen Ihren Willen einen Werkstattplatz annehmen mussten, um wieder in reguläre Arbeit zu kommen.

Sabine Weber: Ja, so war es. Ich bin vor zehn Jahren psychisch erkrankt und war danach längere Zeit in Behandlung. Auch wenn die Erkrankung danach nicht wieder aufgetreten ist, war es unmöglich, in meinem Beruf wieder einen regulären Arbeitsplatz zu finden.

Sie haben ein Studium abgeschlossen und in einer verantwortlichen Position im Verwaltungsbereich gearbeitet.

Ja, ich arbeitete sehr selbständig, war fachlich versiert. Zum Zeitpunkt meiner Erkrankung waren meine Söhne noch klein. Die Erkrankung war für die ganze Familie eine Belastung, auch wenn die Kinder noch nicht richtig verstanden haben, was vorging. Mein Mann hat meine Krankheit nicht wirklich akzeptiert bzw. verarbeitet, und wir haben uns später getrennt. Der Ältere wohnt mittlerweile bei ihm, der Jüngere bei mir.

Wie ging es dann beruflich weiter?

Ich blieb zunächst zu Hause bei den Kindern. Nach einigen Jahren fand ich einen Minijob, der fachlich dem entsprach, was ich vorher gemacht hatte. Mit meiner Erwerbsminderungsrente kam ich dabei über die Runden. Ich arbeite dort noch heute, allerdings unter veränderten Bedingungen. Meine Tätigkeit, das Betriebsklima und die Kollegen sind für mich in Ordnung, aber als ich auf eine Teilzeitstelle aufstocken wollte, stellte der Arbeitgeber sich quer. Er sagte, eine Stundenaufstockung ginge nur mit einem Lohnkostenzuschuss. Ich kam nicht weiter: Mein Minijob war mir auf Dauer zu wenig, eine normal dotierte Festanstellung ohne Lohnsubvention war mit dem Arbeitgeber nicht zu machen.

Konnten Sie bei Ihrer Vorgeschichte keinen Lohnkostenzuschuss bekommen?

Doch, aber nur zeitlich befristet.

Was war dann die Lösung?

Ich musste akzeptieren, mich aufgrund meiner Erkrankung als werkstattberechtigt klassifizieren zu lassen. Aus meiner Erkrankung wurde eine Behinderung. Ich stand damit zunächst dem Arbeitsmarkt offiziell nicht mehr zur Verfügung und erhielt einen Platz im Berufsbildungsbereich der zuständigen Werkstatt.

Sie leben in einer Großstadt und die örtliche WfbM verfügt über einen gut ausgebauten Bereich an betriebsintegrierten Arbeitsplätzen.

Genau. Die Werkstatt schlug vor, dass ich im Rahmen des betrieblich integrierten Berufsbildungsbereichs meine Tätigkeit in der Firma zeitlich ausweiten und damit austesten konnte, ob die Aufstockung für mich verkraftbar war. Der Arbeitgeber musste für diese Erprobungsphase noch nichts zahlen und ich erhielt ein Übergangsgeld. Nach dem BBB wechselte ich in die Betreuung des Integrationsfachdienstes und der konnte für den Übergang aus einer Werkstatt in den Arbeitsmarkt einen dauerhaften Lohnkostenzuschuss aushandeln. Von den 19 Wochenstunden kann ich leben und der Arbeitgeber zahlt nur einen Teil meines Lohnes.

Klingt doch gut. Was stört Sie?

Dass es mir nicht gelungen ist, die notwendige Unterstützung zu bekommen, ohne den Umweg über die Werkstatt zu gehen. Die Erkrankung allein reichte dafür offenbar nicht aus. Ich musste mich behindert machen lassen, um letztlich von meiner Arbeit leben zu können.

Das mit der Werkstatt könnte man doch akzeptieren, zumal Sie sie ja kaum von innen gesehen haben?

Das war eine viel größere Zumutung für mich, als es von außen den Anschein hat. Ich wusste: Meine Kinder und mein Ex-Mann hätten nicht verkraftet, dass ich ein Werkstattfall bin, und hätten sich endgültig von mir abgewandt. Die Erkrankung war schon schlimm genug, aber das ist nun schon zehn Jahre her. Jetzt aber noch die Werkstatt für Behinderte, das wäre für sie endgültig zu viel gewesen. Also habe ich es zwei Jahre lang verheimlicht, was mir sehr schwer gefallen ist. Es war ein ständiges Versteckspiel. Auch in meinem Bekanntenkreis habe ich es nur wenigen gesagt, für die anderen ging ich einfach zur Arbeit. Zum Glück war ich ja schon Jahre lang in diesem Betrieb, so dass nach außen hin alles so weiter lief wie zuvor, nur mit ausgeweitetem Stundenkontingent.

Die Werkstatt selber haben Sie aber doch kaum kennengelernt?

Ganz so war es nicht. Die Mitarbeiter, mit denen ich es zu tun hatte, waren sehr bemüht und haben mir diesen Weg ja geebnet, aber sie bestanden darauf, dass ich auch Zeit in der Werkstatt verbringe. Ich habe an begleitenden Angeboten teilgenommen, an Ausflügen, Gruppengesprächen. Dort hab ich mich so gar nicht zugehörig gefühlt. Man merkte, dass die Werkstatt in erster Linie auf Menschen mit geistiger Behinderung und Lernbehinderung ausgerichtet ist. Das passte nicht auf jemanden wie mich, mit meiner schulischen Bildung und beruflichen Vorerfahrung. Schon die Fragebögen zu Beginn waren so verfasst, dass ich dachte: Wo bist du hier? Ich fühlte mich wie ein Exot, ein Zaungast und habe immer gehofft, bei Ausflügen nicht auf Bekannte zu treffen. Unabhängig von meinem Fall kamen mir die Bemühungen um Festanstellungen in einem Betrieb auch nicht sonderlich zielgerichtet vor, nicht wirklich systematisch und aufeinander aufbauend.

Hatten Sie vorher schon etwas mit Werkstätten zu tun?

Nur indirekt. Ich hatte eine Bekannte, die in der Werkstatt als Betreuerin arbeitet. Die erzählte schon mal von ihrer Arbeit. Aber das war die Sichtweise der Angestellten. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal zu den Betreuten gehören würde.

Was wünschen Sie sich, das sich am Hilfesystem für Leute wie Sie ändern sollte?

Wie gesagt, es darf nicht sein, dass es die notwendige Hilfe nur dann gibt, wenn man sich klein machen lässt. Wenn es stimmt, dass ein Prozent der Bevölkerung an meiner Erkrankung leidet, dann sind das für die Stadt, in der ich lebe, ein paar tausend Menschen. Die meisten in meiner Situation ziehen die Werkstatt für sich überhaupt nicht als Möglichkeit in Betracht, sondern führen eben ihr Frührentner-Dasein. Ich finde es sehr traurig, dass dieser große Personenkreis derart übergangen wird und keine Chance auf ein Arbeitsleben mehr hat.

Sie haben den Konflikt für sich ja letztlich gut gelöst.

Ja, aber ich habe mich lange gegen diesen Weg gewehrt und gemerkt, dass es mir dabei auch nicht gut ging. Ich hatte sicher Glück, dass mein Arbeitsplatz schon vorhanden war und der Prozess sehr zielstrebig und komplikationslos verlief. So gesehen habe ich die zwei Jahre einigermaßen ohne Schaden überstanden und das Ergebnis stimmt: Ich habe eine Teilzeitarbeit, die zu mir passt und von der ich leben kann. Andere haben da sicher weniger Glück. Sie resignieren und finden sich mit ihrer Situation ab. In die Werkstatt wollen sie nicht, und für den Weg zurück in den Beruf bekommen sie nicht die notwendige Unterstützung. Da läuft etwas falsch. Ich hoffe, dass durch das Bundesteilhabegesetz sich daran etwas ändert.

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