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Interview mit Franz Wolfmayr zu den Themen
„Europäische Anforderungen an das deutsche Werkstättensystem – Arbeitnehmerstatus, Tariflohn und Wegfall des Rehabilitationsansatzes“



Franz Wolfmayr war Gründer und langjähriger Geschäftsführer der Chance B in Gleisdorf/Steiermark und Ex-Vorsitzender der EASPD, der Europäischen Vereinigung von Dienstleistern für Menschen mit Behinderung.

Franz Wolfmayr:
„Die EASPD hat in einer Studie drei Bedingungen für geschützte Arbeitsplätze herausgearbeitet, die auch meine Empfehlung an Deutschland sind. Wenn man Werkstätten, auch die deutschen, über diese drei Bedingungen definiert, hat dieses System Entwicklungsmöglichkeiten.“

Franz Wolfmayr spricht auch auf der Fachtagung zum Thema „Werkstatt der Zukunft – Ideen, Visionen, Ausblicke“ in Fulda am 12.11.2018

Weitere Information zur Fachtagung finden Sie unter: www.europa-akademie.info

Arbeitnehmerstatus, Tariflohn, Wegfall des Rehabilitationsansatzes – Europäische Anforderungen an das deutsche Werkstättensystem

Ein Interview mit Franz Wolfmayr, Gründer und langjähriger Geschäftsführer der Chance B in Gleisdorf/Steiermark und Ex-Vorsitzender der EASPD, der Europäischen Vereinigung von Dienstleistern für behinderte Menschen.

Frage: Herr Wolfmayr, der Prüfbericht zum Stand der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland hat 2015 viel Widerspruch ausgelöst. Er forderte auf lange Sicht die Auflösung unseres Werkstattsystems. Was sagen Sie zu der Forderung des Prüfkomitees?

Franz Wolfmayr: Die geht mir zu weit. Das bedeutet aber kein einfaches „Weiter so“. Die EASPD hat in einer Studie drei Bedingungen für geschützte Arbeitsplätze herausgearbeitet, die auch meine Empfehlung an Deutschland sind. Die erste Bedingung ist: Bei geschützten Arbeitsverhältnissen muss es sich um echte Arbeit handeln. Das heißt z.B., das Arbeitsrecht muss gelten, auch eine Vertretung durch die Gewerkschaften muss möglich sein. Die zweite: Die Arbeit muss regulär entlohnt werden. Die dritte bezieht sich auf das, was oft mit geschützten Werkstätten verbunden ist, nämlich der Therapie- oder Rehabilitationsansatz. Der muss zeitlich befristet sein. Wenn man Werkstätten, auch die deutschen, über diese drei Bedingungen definiert, hat dieses System Entwicklungsmöglichkeiten.

Frage: Gehen wir Ihre drei Anforderungen einmal durch und beginnen mit der letzten: Arbeit soll nicht Therapie bzw. Rehabilitation sein. Wollen Sie den Rehabilitationsgedanken ad acta legen?

Franz Wolfmayr: Er soll zeitlich befristet sein. Jemand bekommt zu Therapiezwecken in einem geschützten Rahmen Arbeit, damit er Fähigkeiten aufbauen kann. Wenn das nicht zeitlich befristet wird, bekommt es den Charakter von Beschäftigungstherapie, die auf ewig angelegt ist. Rehabilitation braucht immer ein definiertes Ziel und eine Zeitperspektive.

Frage: Die zweite Bedingung, die Sie genannt haben, war „echte Arbeit“, mit Arbeitnehmerstatus und Arbeitsvertrag. Ein Gegenargument zu dieser Forderung in Deutschland lautet, dass zu Rechten immer auch Pflichten gehören und dass gerade Menschen mit geistiger Behinderung diese Pflichten nicht übersehen können.

Franz Wolfmayr: Das scheint mir vorgeschoben zu sein, vielleicht auch einfach nur überbehütend. Hier haben wir es ja mit Zweckbetrieben zu tun, nicht mit freien Wirtschaftsbetrieben und da kann man spezielle Schutzregeln definieren. Ein besonderer Schutz von Menschen mit Behinderungen im Arbeitsleben ist ohnehin schon gesetzlich verankert.

Frage: Ihr drittes Thema ist die Entlohnung. In Deutschland verdienen Werkstattbeschäftigte einen Euro pro Stunde, der Mindestlohn liegt bei 8,84 Euro. Unsere Sozialpolitiker sagen: In den Werkstätten arbeiten heute schon fünfmal so viele Personen wie ursprünglich geplant. Subventionierte Löhne würden diese Sogwirkung noch verstärken.

Franz Wolfmayr: Na ja. Plätze sind Plätze, sie lassen sich planen und steuern. Und zu dem hohen Zuschussbedarf: Wenn ich mir Betriebe ansehe, die sich im regulären Markt bewegen, wie unsere Hausmasters von Chance B, dann erreichen wir dort eine Produktivität von 60 Prozent. Und ich bin sicher, da arbeiten viele von den Leuten, die in Deutschland in Werkstätten sind. Hausmasters ist aber bewusst kein Sozialbetrieb, sondern ein ganz normaler Betrieb, der Menschen mit Behinderung beschäftigt und für sie die üblichen Zuschüsse erhält. Als normaler Betrieb muss er sich entsprechend im Markt bewegen und immer sofort reagieren, wenn sich irgendwo etwas verändert.

Frage: Heißt das: Weniger Subventionen und mehr Marktorientierung?

Franz Wolfmayr: Ja. Die Betriebe müssen ihre Angebote proaktiv entwickeln und zwar im regionalen Umfeld. Als Chance B sind wir z.B. kurzfristig als Dienstleister für Gemeinden eingestiegen, weil die z.B. keine Schneeräumung mehr machen. Wir haben das wirtschaftliche Risiko übernommen und das geht offensichtlich auch.

Frage: Sie sprechen sich entschieden gegen eine Klassifizierung von Menschen mit Behinderung in „Erwerbsfähige“ und „nicht Erwerbsfähige“ bzw. „voll Erwerbsgeminderte“ aus. Diese Unterscheidung begründet bei uns aber zwei unterschiedlichen Systeme von Unterstützung. Was ist Ihre Kritik?

Franz Wolfmayr: Da, wo Menschen im Laufe ihres Arbeitslebens nicht mehr arbeitsfähig sind, ist dieses Kriterium sinnvoll. Aber es ist dort verzichtbar, wo es eine Barriere für den Eintritt in die Arbeitswelt darstellt. Dass es diesen Effekt hat, lässt sich leicht mit den höheren Zugangszahlen zum Arbeitsmarkt in Staaten belegen, die dieses Kriterium nicht haben.

Frage: Das heißt, es geht auch ohne?

Franz Wolfmayr: Ja, es geht auch ohne. Wir haben dieses Kriterium in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz. Meiner Meinung nach sind die Staaten auch verpflichtet, ihre Barrieren zu überprüfen. Dies ist eine gesetzliche Barriere, weil sie eben nicht auf die individuelle Arbeitsfähigkeit, auf die Arbeitswilligkeit oder den Wunsch der Person eingeht, sondern sagt: Es ist egal, wo du stehst oder was du für ein Interesse hast, du bist nicht arbeitsfähig. Das ist diskriminierend und das muss einfach fallen. Bei uns gibt es beim Übergang ins Erwerbsleben eine medizinische Diagnostik, die den Grad der Behinderung und der Leistungseinschränkung feststellt. Beides muss über 50 Prozent liegen. Sind die Bedingungen erfüllt, gibt es spezielle Hilfen, aber derjenige ist auch einsortiert und kommt dort kaum wieder raus.

Frage: Und was soll dann an dessen Stelle treten?

Franz Wolfmayr: Der Unterstützungsbedarf, ausgehend von der Frage: Wo möchte dieser junge Mann, diese junge Frau sich hin entwickeln? Bei der Chance B ist das unser Ansatz beim Jugendcoaching. Da haben wir etwa ein Jahr lang Zeit, Leute dabei zu begleiten, dass sie eine Berufswahlentscheidung treffen, sich für eine Berufsausbildung oder für einen konkreten Arbeitsplatz entscheiden.

Frage: Letzten Endes ist das ja immer mit Geldentscheidungen verbunden: Wie viel personelle Unterstützung bekommt jemand? Wie viel finanzielle Hilfe steht ihm zu? Wenn man einen individuellen Bedarf zugrunde legt, ist dies doch die Zersplitterung des Hilfesystems, oder?

Franz Wolfmayr: Man kann durchaus Gruppen bilden. Die finanziellen Hilfen, die eine geringere Leistungsfähigkeit abdecken sollen, müssen nicht einzeln auf die Person hin berechnet sein. So etwas gibt es ja im Sozialbereich überall. Im Moment ist für viele „erwerbsfähige Behinderte“ zu wenig Geld im Topf. Entsprechend hoch ist die Arbeitslosigkeit. Auf der anderen Seite habe ich manchmal den Eindruck, dass manche als nicht erwerbsfähig Geltende überversorgt sind. Dass es auch mit geringeren Summen geht, zeigen uns andere Länder, die gar nicht so viel Geld haben. Da ist es allerdings zum Teil wirklich zu wenig, so wie in Spanien. Aber grundsätzlich funktioniert deren System, eine finanzielle Unterstützung für alle zu haben. Dann kann es wirklich passieren, dass ein Unternehmen zehn Leute anstellt und dann kriegt es eben die Förderung, die sie brauchen. Neben dem Lohnkostenzuschuss gibt es auch personelle Unterstützung, als Hilfe bei der Einarbeitung, als persönliche Assistenz, zum Training für den Weg zur Arbeit und so weiter.

Frage: Sie sagen, Deutschland muss etwas tun, das System muss sich wandeln. Und Sie haben skizziert, wo es hingehen soll. Wie kommt man aber dahin? Wie würden Sie das angehen?

Franz Wolfmayr: Deutschland ist, was die Eingliederungshilfe angeht, zentralistisch. Die gesetzlichen Grundlagen der Werkstätten gelten überall. Man muss also mit diesen Gesetzesgrundlagen anfangen. Und dann muss man, wie es so schön heißt, Changemanagement-Prozesse auf den Weg bringen, so wie man es auch bei der Schließung der Heime tut. Jeder Betrieb, jede Region ist unterschiedlich. Man muss gute Beispiele heranziehen, wo sowas schon gemacht wurde. Allerdings gibt auch schlechte Beispiele, aus denen man lernen kann: In England haben sie beispielsweise kurzfristig alles zugemacht und viele Leute sitzen zu Hause. Wollen wir das? Wenn nicht, dann muss man schauen, wie man solche negativen Effekte vermeiden kann. Ich würde einen Pool von Experten aufbauen, die Changemanagement-Prozesse begleiten. Wir in der EASPD tun das. Für die Umstrukturierung von Heimen haben wir solche Stellen und bieten sie den Staaten an. Dabei geht es z.B. um Ungarn und andere östliche Staaten, wobei Deutschland es auch nötig hätte. Bayern hat nach wie vor die größten Heime, die ich kenne. Ich möchte nicht als derjenige rüberkommen, der sagt: Das muss so sein. Ich möchte rüberkommen als der, der sagt: Die Staaten haben sich mit der Ratifizierung der UN-Konvention selbst dazu verpflichtet und deshalb muss man einen Prozess starten, wie man dort hinkommt. Sonst machen Deutschland oder andere Staaten ja auch solche Dinge, wenn sie etwas wollen. Wenn sie sagen, da müssen wir hin, dann tun sie das auch.

Das Interview für die Europa-Akademie führte Dieter Basener.

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