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Änderungsbedarf in Werkstätten für behinderte Menschen – 12 Vorschläge

Änderungsbedarf in Werkstätten für behinderte Menschen – 12 Vorschläge

Werkstätten für behinderte Menschen wurden im Jahr 1974 im Schwerbehindertenrecht verankert und sind damit über 40 Jahre alt. Seit ihrer Gründung haben sich viele Planungsgrößen, Leitvorstellungen und Zielsetzungen verändert. Einige Beispiele:

• Die Zahl der Werkstattplätze ist fünfmal so hoch wie ursprünglich geplant.
• Seit der Einführung des SGB IX ersetzen Autonomie und Selbstbestimmung das pädagogische Leitbild der Fürsorge.
• Die UN-Behindertenrechtskonvention gibt Inklusion als gesellschaftliches Ziel vor, Sondereinrichtungen stehen auf dem Prüfstand.

Es ist Zeit, die Werkstattgesetzgebung einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Welche Regelungen haben sich überlebt? Welche Hilfen können heute eine berufliche Teilhabe ermöglichen, wie soll sie aussehen und welche Rolle sollen die Werkstätten dabei spielen? Diese Beitragsreihe benennt Probleme und Fehlentwicklungen und macht Vorschläge für die geplante Gesetzesnovellierung.

Folge 12 befasst sich mit der Drosselung des Wachstums der Werkstätten und schlägt eine Begrenzung auf den aktuellen Stand der Platzzahlen vor

Wann gibt es ein Gleichgewicht zwischen Zu- und Abgängen in der WfbM?
Seitdem die gesetzlichen Grundlagen für das flächendeckende Werkstattnetz geschaffen wurden, gab es eine stetige Ausweitung der Zahl der Werkstattplätze. Kein Jahr verging ohne Steigerung. Die Wachstumsraten schwankten zwischen jährlichen ein und fünf Prozent, aktuell liegen sie bei knapp zwei Prozent. Immer wieder wurde ein Ende des Wachstums vorhergesagt. Die Consens-Studie, eine Bestands- und Bedarfserhebung im Auftrag des Bundessozialministeriums aus dem Jahr 2003, prognostizierte beispielsweise bis 2010 einen Anstieg der Zahl der Werkstattbeschäftigten auf 254.000 und ab 2011 eine Abnahme des Bedarfs. Das hat sich nicht bestätigt. Im „klassischen Feld“ der Werkstätten, der Beschäftigung von Menschen mit geistiger Behinderung, scheint zwar der Zuwachs mittlerweile zu stagnieren, dafür ist die Nachfrage von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen erheblich gestiegen. In den 80er Jahren waren sie kaum in Werkstätten vertreten, durch den Ausbau von Spezialwerkstätten wuchs ihr Anteil aber mittlerweile auf knapp 20 Prozent. Unter den 300.000 Werkstattbeschäftigten sind knapp 60.000 Menschen mit einer psychischen Behinderung. Ein Ende des Wachstums scheint also nicht in Sicht.

Wo steht der Versorgungsgrad an Werkstattplätzen und wie ist die Tendenz?
Statt des ursprünglich geplanten Verhältnisses von einem Werkstattplatz auf 1.000 Einwohner lag der Anteil nach einem Bericht der überörtlichen Sozialhilfeträger 2014 bereits bei 1:176, bezogen auf Menschen im arbeitsfähigen Alter zwischen 18 und 65. In Sachsen-Anhalt arbeitet sogar schon fast jeder 100. Einwohner in einer WfbM. Der Bedarf an Arbeitsplätzen für den Personenkreis der psychisch behinderten Menschen ist weiterhin beträchtlich, wenn man die Anzahl der aufgrund einer psychischen Erkrankung Beschäftigungslosen zugrunde legt. Die Aktion psychisch Kranke beziffert sie auf ca. 700.000. Ein Versorgungsgrad von über einem Prozent von Werkstattplätzen rückt in den Bereich des Möglichen, wenn es keine Maßnahmen für eine Trendwende gibt.

Warum ist das Wachstum nach 40 Jahren immer noch ungebrochen?
Dass die Wachstumskurve an Werkstattplätzen beständig nach oben zeigt, liegt an der besonderen Konstruktion in der deutschen Behindertengesetzgebung: Wem eine Werkstattberechtigung attestiert wird, der hat einen einklagbaren Rechtsanspruch auf einen Werkstattplatz. Eine Platzzahlkontingentierung wie in anderen Ländern gibt es nicht. Das ungebremste Wachstum der Werkstätten basiert auf der Sogwirkung, die die Werkstatt ausübt. Sie hat ihre Ursache in der strikten Trennung in Erwerbsfähige und nicht Erwerbsfähige in unserem Fördersystem und in der massiven Besserstellung der „Erwerbsunfähigen“. Nun finden gerade Menschen mit einer psychischen Erkrankung den Status „Werkstattbeschäftigter“ in der Regel nicht sonderlich erstrebenswert. Für sie selbst beinhaltet er das Eingeständnis, auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr Fuß fassen zu können, bezüglich ihres sozialen Umfeldes ist er mit Stigmatisierung und Ausgrenzung verbunden. Dennoch überwiegt häufig die Attraktivität der Werkstatt. Sie liegt in der Unbefristetheit und Unkündbarkeit der Beschäftigung, in der trotz des niedrigen Entgeltes guten finanziellen Absicherung durch flankierende Transferleistungen und nicht zuletzt in den guten und relativ stressfreien Arbeitsbedingungen. Den Sogeffekt des dualistischen Hilfesystems habe ich schon in früheren Folgen dieser Serie behandelt (s. insb. Vorschlag 11: Personenbezogene Finanzierung des individuellen Bedarfs).

Haben die Ideen der gesellschaftlichen Teilhabe und der Selbstbestimmung behinderter Menschen in Deutschland den Fürsorgegedanken abgelöst?
Das SGB IX stellt tatsächlich die Teilhabeidee und den Gedanken des Wunsch- und Wahlrechts in den Mittelpunkt. Ein Großteil unserer institutionellen Hilfen beruht aber immer noch auf einem veralteten Denkansatz: Für den, der als hilfeberechtigt identifiziert ist, halten wir ein professionelles System von fürsorglichen Sondereinrichtungen bereit; Sonderkindergärten, Sonderschulen, Sonderarbeitsplätze und Sonderwohnbereiche. Sie sollen sich im Auftrag der Gesellschaft um das Thema „Behinderung“ kümmern, dem besonderen Schutz- und Hilfebedarf behinderter Menschen Rechnung tragen, Professionalität in der Betreuung sicherstellen und „bestmögliche Förderung“ gewährleisten. Dass dies für die Betroffenen ein Leben in einer Parallelwelt bedeutet, ist lange Zeit nicht problematisiert worden. Die Integrations- und Inklusionsbewegung und die Selbstvertretungsinitiativen behinderter Menschen setzten neue Prioritäten: Ihre Leitbilder sind das Ende der gesellschaftlichen Ausgrenzung, das Ende der Fremdbestimmung, die Teilhabe an allen Lebensbezügen sowie eigene Entscheidungs- und Wahlmöglichkeiten. Das SGB IX hat, wie gesagt, diese Leitvorstellungen bereits 2001 aufgegriffen und mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich die Bundesrepublik endgültig zur Umsetzung dieser Ziele verpflichtet. Ihre Realisierung hat aber bisher nur den Schulbereich erreicht.

Was bedeutet das für die berufliche Teilhabe?
Auch die berufliche Teilhabe muss alte Denkmuster verlassen und die Prioritäten umkehren. Die neue Devise lautet: Vorrang für inklusive Formen von Arbeit, eine Beschäftigung in Werkstätten nur noch in Ausnahmefällen. Ein erster Schritt in diese neue Gewichtung wäre eine Begrenzung der Zahl der Werkstattplätze auf dem aktuellen Niveau. In ihr läge ein doppeltes Signal: Wir fördern keinen weiteren Ausbau des Sonderarbeitsmarkts mehr, respektieren aber die Wahlfreiheit der Werkstattbeschäftigten, die sich für das Verbleiben in ihrer Werkstatt entscheiden.

Was hat das Einfrieren der Werkstattplätze für Auswirkungen? Gibt es Erfahrungen mit der Begrenzung?
Erfahrungen mit einem Einfrieren der Anzahl der Werkstattplätze gibt es in Hamburg. Seit einigen Jahren wird hier durch die Vorgaben der Sozialbehörde das Wachstum der Werkstätten beschnitten. Das Ergebnis dieser Deckelung ist wider Erwarten keine Warteliste, sondern eine gestiegene Vermittlungstätigkeit, begünstigt durch das Hamburger Budget für Arbeit. In zwei Jahren wurden mit diesem Instrument 100 Werkstattbeschäftigte in tariflich entlohnte Arbeitsverhältnisse vermittelt.

Eine Wachstumsbegrenzung allein reicht sicher nicht. Welche weiteren Änderungen müssen getroffen werden?
Das Hamburger Beispiel zeigt zunächst, dass die heutige Anzahl der Werkstattplätze die Nachfrage decken kann, wenn gleichzeitig neue Möglichkeiten eröffnet, Fehlanreize beseitigt und Beschäftigte, Angehörige und Arbeitgeber ermutigen werden, das Wagnis der Inklusion auf sich zu nehmen. Und das sind die Änderungen und zusätzlichen Anreize, die den inklusiven Weg der Teilhabe begünstigen können:

- Der Dualismus im Fördersystem mit seinem trügerischen Trennkriterium Erwerbsfähigkeit/Erwerbsunfähigkeit muss fallen und durch die Ermittlung des individuellen Hilfebedarf ersetzt werden.
- Die daraus resultierende Geldleistung muss an die Person gebunden sein und sowohl für einen Werkstattplatz wie für einen Arbeitsplatz bei einem öffentlichen oder privaten Arbeitgeber eingesetzt werden können. In einem Betrieb kann sie für die externe Unterstützung durch einen Fachdienst, für die interne Unterstützung durch einen Kollegen im Betrieb sowie zur Lohnkostensubvention verwendet werden. Zudem sollte sie für Bildungs- und Weiterbildungsaktivitäten und künstlerische Tätigkeiten verwendbar sein.
- Die Anrechnung im System der Beschäftigungspflicht sollte nach dem Grad des Hilfebedarfs gestaffelt werden: Damit wäre es attraktiver, einen vormals Werkstattbedürftigen zu beschäftigen als eine Person mit relativ geringer Beeinträchtigung.
- Der gesetzliche Mindestlohn muss innerhalb wie außerhalb der Werkstatt verpflichtend werden. Er lässt sich ggf. durch Umwidmung von Transferleistungen subventionieren. Die inklusionshemmenden staatlichen Beitragszahlungen in die Rentenkassen für Werkstattbeschäftigte mit dem Anspruch auf EU-Rente nach 20 Jahren können dann wegfallen.

Welche Regelungen und Hilfen sind für Beschäftigte und ihre Eltern noch wichtig?
- Vor die Entscheidung für einen Berufsweg bzw. einen beruflichen Neustart muss die Arbeit eines Vermittlungsfachdienstes geschaltet sein, der Orientierungs- und Erprobungsmöglichkeiten organisiert und ggf. auch noch nach der Festvermittlung begleitet. Auch die Schule muss schon systematisch auf mögliche Tätigkeit auf dem Arbeitsmarkt vorbereiten, in die der Fachdienst ebenfalls eingebunden sein sollte. Die Arbeit eines solchen Fachdienstes ist der Dreh- und Angelpunkt für eine erfolgreiche Vermittlung in den Arbeitsmarkt, weil er für alle Beteiligten, die Beschäftigten und ihre Angehörigen, Arbeitgeber und Kostenträger der Garant des Erfolges ist. Das zur Verfügung stehende Stundenkontingent muss individuell bemessen, aber ausreichend sein, der Fachdienst muss auch nach der Vermittlung noch zur Verfügung stehen.
- Auch eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten gehört zu diesem Maßnahmenbündel: Teilzeitarbeit darf nicht die Ausnahme, sondern muss ein gleichwertiges Arbeitsmodell sein. Auch Mehrfachjobs sowie die Aufteilung des Arbeitsplatzes zwischen WfbM und anderen Arbeitgebern sollten möglich werden, auch um an berufsbildenden und Fortbildungsangeboten oder künstlerischen Aktivitäten teilnehmen zu können.

Neben diesen direkten Hilfen und Regelungen im Zugang zum Arbeitsmarkt muss es flankierende Hilfen geben:
- Fahrmöglichkeiten zum Arbeitsplatz müssen bei Bedarf bereitgestellt werden. Es darf sich nicht um ein Regelangebot handeln, sondern als letzte Lösung nach Ausschöpfung aller anderen Möglichkeiten, etwa der Erstattung von Mitfahrmöglichkeiten bei Betriebskollegen.
- Durch den Wegfall von Vollzeittätigkeiten könnten zusätzliche Betreuungszeiten erforderlich sein. Sie sollten nicht als gesonderte Angebote organisiert, sondern stadtteil- bzw. gemeindebezogen und inklusiv angelegt sein. Aber Achtung: Es geht nicht, wie im jetzigen System, um Vollversorgung. Inklusion räumt der Selbstbestimmung einer Person erste Priorität ein.
- Die Fachdienste zur Unterstützung im Betrieb müssen auch Bildungs-, Freizeit- und Wohnangebote im Auge haben. Inklusive Formen von Arbeit erfordern begleitende Angebote und Möglichkeiten in anderen Lebensbereichen, die aber ebenfalls nicht aussondernd, sondern sozialraumbezogen und inklusiv angelegt sein müssen. Unterstützung und Hilfe muss die gesamte Lebenssituation eines Menschen im Blick haben. Sie darf nicht klassisch nach „professionellen“ Lösungen suchen, sondern muss im Sinne der Sozialraumorientierung die Eigenverantwortung der Betroffenen stärken, ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten fördern sowie das soziale Umfeld mit seinen Möglichkeiten und seiner Kreativität einbeziehen.

Ist die aktuelle Anzahl der Werkstattplätze langfristig noch erforderlich?
Eine solche grundlegende Umsteuerung mit der Priorisierung inklusiver Arbeitsmöglichkeiten wird sich nicht unmittelbar, sondern erst allmählich auswirken, weil die meisten Werkstattbeschäftigten erfahrungsgemäß in ihren vertrauten Strukturen bleiben wollen. Wenn die neuen Möglichkeiten und Instrumente greifen, ist aber mittel- und langfristig ein Abschmelzen der Werkstattplatzzahlen wahrscheinlich.

Zusammenfassung
Die Zielvorgabe der UN-Behindertenrechtskonvention, die Verwirklichung von Inklusion in allen Lebensbereichen, ist nicht zu vereinbaren mit einem stetigen Wachstum des Sondersystems Werkstatt. Hamburger Erfahrungen zeigen, dass die aktuelle Anzahl von Werkstattplätzen mit einem Versorgungsgrad von einem halben Prozent der Bevölkerung ausreichend ist. Die Platzzahl lässt sich auf dem aktuellen Niveau einfrieren, verbunden mit der Vorgabe, inklusiven Beschäftigungsmöglichkeiten den Vorrang vor einem Arbeitsplatz in der Werkstatt einzuräumen. In der Förderpolitik müssen die ambulanten Hilfen gleichrangig finanziert sein und Anreize für inklusive Beschäftigung für Beschäftigte und Arbeitgeber gesetzt werden. Die Arbeitsbedingungen müssen sich nach dem Bedarf der Beschäftigten ausrichten und es muss ausreichende Begleitung und Unterstützung am Arbeitsplatz zur Verfügung stehen. Da die Lebensbereiche Arbeit, Wohnen und Freizeit ineinander greifen, müssen die Arbeitsbegleiter deren Wechselwirkungen im Blick behalten. Sie können dabei die freigesetzte Motivation und das Entwicklungspotential der Beschäftigten und die Unterstützung des sozialen Umfeldes nutzen. Wenn die Alternativen zur Werkstatt für alle verfügbar und attraktiv gestaltet sind, wird es möglich sein, langfristig die Zahl der Werkstattplätze wieder deutlich zu verringern.

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