Header Image

Mehr Selbstbewusstsein, weniger Empfindlichkeit

Sind Werkstätten die Prügelknaben der Sozialpolitik? Diesen Eindruck kann man gewinnen, wenn Werkstattverantwortliche darüber reden, dass sie ständig Forderungen nach stärkerer Öffnung und mehr Vermittlungen hören. Das Missverstandensein ist für manche zu einem zentralen Thema geworden: Werkstatttreffen wirken oft wie Klagerunden. Tenor: „Immer werden wir an den falschen Kriterien gemessen. Für die Politik zählen nur die Übergänge in den Arbeitsmarkt. Unsere eigentliche Leistung erkennt niemand an.“ Seit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtkonvention hat sich der Groll noch verstärkt. Örtliche Presse und Lokalpolitiker, früher den Werkstätten durchweg wohlgesonnen, gehen auf Distanz. Statt des Bürgermeisters kommt oft nur noch der zuständige Referent zum Tag der offenen Tür. Kein Wunder, dass auch der Inklusionsgedanke bei vielen Werkstattvertretern nicht sehr hoch in Kurs steht. Der ehemalige Vorsitzende der BAG WfbM beispielsweise antwortet in einem Interview mit dem Werkstatt:Dialog, Ausgabe 4/2016, auf die Frage „Tut man behinderten Menschen mit der Inklusion überhaupt einen Gefallen?“: „Einzelnen vielleicht, dem Gros sicherlich nicht.“ Und er fügt hinzu: „Nehmen wir beispielsweise den schulischen Bereich: Geistig behinderte Menschen sind nun einmal keine Abiturkandidaten.“ Abgesehen davon, dass das Abitur nicht der Standard-Abschluss der Regelschule ist, sollte sich Herr Mosen einmal bei der integrativen Sophie-Scholl-Schule der Lebenshilfe Gießen informieren. Die ist bei Eltern nichtbehinderter Kinder sehr beliebt, weil sich herumgesprochen hat, dass die Inklusion Lernfreude und Zukunftschancen aller Schüler verbessert.

Aber zurück zur seltsam anmutende Defensivhaltung der Werkstätten gegenüber ihren Kritikern. Richtig ist: Die Diskussionsbeiträge der Werkstattgegner sind oft sehr pauschal und ungerecht. Sie verwechseln Ursache und Wirkung und sehen die Werkstätten als die Schuldigen für mangelnde Wahlfreiheit. Aber sie treffen die Falschen. Werkstätten tun nichts anderes als das, was das Gesetz ihnen vorschreibt. Welche Möglichkeiten zur beruflichen Teilhabe finanziert werden, liegt nicht in ihrem Ermessen, sondern ist gesetzlich festgelegt. Für die Arbeit der Werkstätten gibt es sehr genaue Vorgaben und sie haben sich daran zu halten. Wenn nicht, droht ihnen der Verlust ihrer Anerkennung. Nicht die Werkstätten haben das Heft des Handelns also in der Hand, sondern der Gesetzgeber. Und der musste bisher zu Neuerungen meist gedrängt werden, auch dadurch, dass innovative Werkstätten ihre Grenzen gezielt ausweiteten. Beispiel: Ausgelagerte Einzelarbeitsplätze und betriebsintegrierte Berufsbildung waren in den 90er Jahren nicht erlaubt. Erst als in einigen liberaleren Großstädten Werkstätten ihre Angebotspalette in diese Richtung erweiterten und das offensichtlich zu einer neuen Qualität für die Beschäftigten führte, machte eine Gesetzesänderung Werkstattplätze in Betrieben überall möglich. In Sachen Angebotsvielfalt sind Werkstätten schon von Beginn an aktiv: Sie entwickeln immer neue Arbeitsfelder, die die Vielfalt der Fertigungen in der Industrie widerspiegeln. Und sie bieten Dienstleistungen, die eine Brücke zur Bevölkerung schlagen und ihr die Berührungsängste vor dem Thema Behinderung nehmen. Gastronomieprojekte und Hotels gehören dazu, Wäschereien und Zeltverleih, Landschaftsgärtnereien und Tierpensionen. Schließlich verlagern sie ihre Arbeit zunehmend in Betriebe. Werkstattbeschäftigte arbeiten in der IKEA-Fundgrube, in Museen und Archiven. Sie waschen die Fahrzeuge der Polizei und reinigen Fußballstadien. Das zeigt: Werkstätten nehmen den Auftrag zur Integration mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln und Möglichkeiten an. Ob die Kritiker sich dessen wirklich bewusst sind?

Es gibt noch eine andere wichtige Funktion, die Werkstätten erfüllen, und zwar die des Schutzraums, ohne den viele Beschäftigten am Arbeitsleben nicht teilnehmen könnten. Die Ursache für psychische Erkrankungen liegen beispielsweise oft in der Arbeitswelt. Eine Rückkehr in Betriebe mit ihren für sie krankmachenden Bedingungen verbietet sich für die Betroffenen. Werkstätten organisieren Arbeit ohne Ansehen der Person mit ihren Schwierigkeiten, Auffälligkeiten und Besonderheiten. Die Verpflichtung, alle zu beschäftigen, die einen Anspruch darauf haben, ist im freien Arbeitsmarkt nicht zu realisieren, auch nicht mit gesetzlichen Vorgaben. Mit diesem Pfund lässt sich in der öffentlichen Darstellung wuchern. Selbstbewusstsein und Offensive sind angebracht, statt sich in die Schmollecke zurückzuziehen. Werkstätten sind meist besser als ihr Ruf, sind für viele Betroffene die einzige Chance auf Arbeit und müssen auch in Zukunft im Gesamtangebot eine Rolle spielen. Deshalb ist in Deutschland wohl keine Auflösung der Werkstätten zu befürchten, wie dies die britische Regierung verfügt hat.

Also alles gut so wie es ist? Einfach so weitermachen wie bisher? Nein, Werkstätten können in Zeiten der Inklusion für sogenannte „nicht Erwerbsfähige“ nicht die einzige Möglichkeit zur Arbeit bleiben. Behinderten Menschen steht ein Wunsch- und Wahlrecht zu und sie müssen die Chance haben, es auszuüben. Sie müssen zwischen deutlich unterscheidbaren Angeboten und unterschiedlichen Anbietern wählen können. Die beschriebene Vielfalt der Werkstätten bietet bei Weitem nicht das, was ein geöffneter Markt an Wahlmöglichkeiten bereitstellen kann. Mit der bevorstehenden Verabschiedung eines Teilhabegesetzes zeichnet sich nun die Eröffnung eines Marktes in der beruflichen Teilhabe ab, wenngleich leider nur als „Werkstatt in anderer Form“. Die Tatsache, dass Werkstätten an dieser Öffnung Kritik äußern und dass sie die Bedingungen für die Wettbewerber mitbestimmen möchten, kann man ihnen mit Recht zum Vorwurf machen. Das riecht stark nach Rückwärtsgewandtheit und Lobbyismus. Sicher ist es nicht angenehm, sein Monopol zu verlieren und sich der Konkurrenz stellen zu müssen. Sicher ist die Situation neu und ungewohnt. In einem Reha-Markt sind ihnen die Kostensätze vom Eintritt ins Erwerbsleben bis zur Rente nicht mehr garantiert, ebensowenig wie die jährlichen Zuwachsraten an Werkstattplätzen von zwei bis drei Prozent. In Zukunft heißt es, Teilnehmer zu gewinnen, mit Leistung und guten Angeboten zu überzeugen, um jeden einzelnen Teilnehmer zu kämpfen, Kunden- und Serviceorientierung zu entwickeln.

Und da ist noch viel Potenzial nach oben. Wer weiß, wie sehr sich beispielsweise Autofirmen um ihre Kunden bemühen, mit Wohlfühlambiente, intensiver Beratung, ausgedehnten Probefahrten, individuellem Entgegenkommen und vielem mehr, der wundert sich, wie bürokratisch und uninspiriert eine Werkstattaufnahme vonstatten gehen kann. Dabei geht es beim Neuwagenkauf um einen Betrag von vielleicht 30.000 Euro, bei einem Werkstattplatz in vierzig Arbeitsjahren um rund eine halbe Million. Dafür kann man sich gerne schon mal ins Zeug legen.

Man möchte also den Werkstätten zurufen: Hört auf zu jammern, seid selbstbewusst und stellt Eure Leistungen und Fähigkeiten heraus. Nehmt aber auch die Herausforderungen einer Marktöffnung an. Der Fokus der beruflichen Teilhabe ist schließlich nicht die Werkstatt, sondern der behinderte Mensch. Er soll endlich zum selbstbewussten Kunde werden können, wie ihm dies das SGB IX schon vor 15 Jahren zugesagt hat. Für diesen Wettbewerb seid Ihr gut aufgestellt und müsst Euch nicht verstecken, allenfalls ein paar neue Fähigkeiten und Tugenden entwickeln.

Europa Akademie

Haben Sie Fragen oder Anregungen?

Sie möchten unseren Newsletter Ihren Kollegen oder Bekannten empfehlen?

Unter www.europa-akademie.info können Sie sich in unseren Verteiler eintragen.

Wenn Sie künftig keinen Newsletter mehr erhalten möchten, genügt ein kurzer Hinweis per Mail.


mehr Info

Facebook

Contact us

Diese Mail wird verschickt von der
[Europa-Akademie, Institut für Teilhabe und Inklusion]
[Werraland Werkstätten e.V.]
[Kochsberg 1 · 37276 Meinhard-Grebendorf]

[Tel.: +49 05651 926216]
[E-Mail: info@europa-akademie.info]
In unseren Verteiler eintragen

Impressum
Die Europa-Akademie, Institut für Teilhabe und Inklusion, ist ein Geschäftszweig der
[Werraland Werkstätten e.V.]
[Hessenring 1 · D-37269 Eschwege]
[Tel.: 05651 9260 · Fax: 05651 926150]

[Ust.-ID-Nr: DE 111820883 · AG Eschwege / VR: 321]
[Geschäftsführender Vorstand: Gerd Hoßbach]
[Verantwortlich für den Inhalt des Newsletters: Martin Hofmockel]

Für Datenschutz - und Haftungshinweis klicken Sie HIER.